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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Versammlungen für die Öffentlichkeit, für Laienmitglieder und für die Mönche und Nonnen. Am Anfang besuchte ich das Dojo ein- bis zweimal im Monat.
    Als ich Mitglied wurde, hatte ich keine nennenswerten persönlichen Probleme. Ich verspürte nur eine große innere Leere – als wäre da ein Loch, durch das unentwegt der Wind pfiff. Ich war ständig unruhig und nie zufrieden. Von außen merkte man mir nichts an. Erst als ich die Gelübde ablegte, wunderten sich einige und fragten mich, ob ich denn Probleme gehabt hätte.
    Murakami: Im Leben eines jeden Menschen gibt es Phasen von Schmerz, Trauer und Niedergeschlagenheit, die einen zutiefst erschüttern können. Haben Sie so etwas nie erlebt?
    So extrem eigentlich nicht. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern.
    Im Sommer verbrachte ich drei Tage in der neuen Zentrale am Fuji, aber erst ab dem Herbst 1989 begann ich ernsthaft, an den Veranstaltungen des Dojo teilzunehmen. Ich verbrachte nun jedes Wochenende dort. Während der Woche machte ich meine Übungen zu Hause. Besonders als ich Shaktipat empfing, musste ich körperlich fit sein. Weil die Übertragung von Energie von einer Person auf die andere sehr heikel ist, muss man sich darauf durch besondere Übungen vorbereiten. Ich machte Asana [Yoga], Atem- und einfache Meditationsübungen. Die Kurse dauerten ungefähr drei Stunden, und man musste zwanzig davon absolvieren. Während dieser Schulung spürt man die Veränderung, die mit dem eigenen Körper geschieht. Die geistige Einstellung wird positiver, mehr nach vorne orientiert. Man fühlt sich wie verwandelt.
    Die Leute im Dojo nahmen ihren Glauben sehr ernst. Sie waren aufrichtig und gewissenhaft, auch die Meister und Lehrer. Nur hätten sie sich vielleicht der Öffentlichkeit gegenüber ein bisschen geschickter verhalten können. Sie waren so übereifrig wie jemand, der frisch von der Uni kommt und seine erste Arbeitsstelle hat. Es fehlte ihnen noch an Erfahrung, und von außen betrachtet wirkten sie sehr unreif.
    Um Aum-Mönch werden zu können, musste ich meine Stelle an der Schule aufgeben. Ich ging zum Rektor und erklärte ihm, dass ich Ende März aufhören wolle. Zusätzlich holte ich auch den Rat eines »älteren Bruders« bei Aum ein, der mich davor warnte, mich allzu schnell zu entscheiden. »Erfülle lieber deine Pflichten und arbeite noch ein Jahr, bevor du die Gelübde ablegst«, sagte er zu mir. Das enttäuschte und bekümmerte mich zwar, aber ich beschloss, noch ein weiteres Jahr an der Schule zu arbeiten.
    Aber durch meine Übungen trat mein Astralleib sehr stark hervor, und mein Unbewusstes drängte zur Oberfläche, sodass mein Realitätssinn geschwächt wurde. Wenn dieser Zustand eintritt, sollte man eigentlich in Klausur leben. Alles wäre in Ordnung gewesen, wenn mein Unbewusstes erst während der Sommerferien aufgetaucht wäre, aber es geschah kurz davor. Am schlimmsten war es im Chemieunterricht, wenn ich einfach nicht mehr wusste, ob ich schon alle Chemikalien für ein Experiment gemischt hatte oder nicht. Mein Realitätssinn war kaum noch vorhanden. Mein Gedächtnis ließ nach, und ich konnte häufig nicht mehr beurteilen, ob ich etwas wirklich getan oder nur davon geträumt hatte.
    Mein Alltagsbewusstsein war weg, und ich konnte es nicht zurückholen. Die Schriften erwähnen, dass an einem gewissen Punkt der Schulung dieser Zustand von Gespaltenheit auftritt, den ich damals erreicht hatte. In mir gab es nichts mehr, auf das ich mich verlassen konnte. Immerhin konnte ich meinen Zustand noch einschätzen – im schlimmsten Fall hätte ich schizophren werden können. Meine Angst wuchs. Ich musste diesen Zustand der Gespaltenheit überwinden, aber ein Psychiater hätte mir nicht helfen können. Der Schlüssel lag in meinen Übungen. Also musste ich möglichst bald die Gelübde ablegen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich ganz Aum anzuvertrauen. Außerdem wollte ich ja schon immer ins Kloster gehen.
    Ich suchte nochmals den Rektor auf, um ihm mitzuteilen, dass ich nun doch aufhören wolle. Die Kündigung eines Lehrers mitten im Schuljahr kommt natürlich ungelegen, aber der Rektor zeigte ein gewisses Verständnis für meine Situation und befreite mich krankheitshalber bis zum Ende der Sommerferien von der Arbeit. Am Ende war es gar nicht so einfach, die Schule zu verlassen, um Mönch zu werden. Schließlich ging ich, ohne Abschied zu nehmen. Wahrscheinlich habe ich meine Kollegen ganz schön in Schwierigkeiten gebracht, und sie

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