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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Meine neue Schule lag auf dem Land.
    Vom Anfang an hatte ich eine eigene Klasse. Vierzig Kinder auf einmal um sich zu haben, war am Anfang ganz schön anstrengend und hielt mich völlig in Atem. Ich erinnere mich noch gut, wie es war. Ich war der neue junge Lehrer, und wenn ich in die Schule kam, scharten sich meine Schüler um mich, zerrten an mir herum und riefen: »Sensei, Sensei!« und »Gucken Sie mal, gucken Sie mal, Wettrennen.« Dann rannte einer beim Wettrennen gegen die Mauer und heulte. Vom ersten Tag an war das so. Wir mussten gleich in den Sanitätsraum.
    Der Grundschulunterricht hat mir den meisten Spaß gemacht. Insgesamt habe ich etwa zehn Jahre unterrichtet, aber die fünf oder sechs an der Grundschule waren meine goldene Zeit. Mit den Eltern kam ich auch gut zurecht. Ab und zu trafen wir uns zum Singen oder einfach zu Kaffee und Kuchen. Auch im Lehrerzimmer hatte ich nie Ärger.
    Viele fanden, es sei an der Zeit für mich zu heiraten, besonders meine Eltern. Aber ich spielte immer wieder mit dem Gedanken, eines Tages in ein Kloster zu gehen.
    Murakami: Diesen Wunsch hatten Sie also schon damals?
    Ja, lange bevor ich überhaupt etwas von Aum wusste. Ich hatte aber eher die traditionelle Vorstellung, dass ich mich mit sechzig in eine ruhige Klause zurückziehen und als Mönch leben würde.
    An der Uni habe ich mich sehr für Nietzsche und Kierkegaard interessiert, aber mit der Zeit fühlte ich mich mehr zu östlichen Lehren hingezogen, besonders zum Zen-Buddhismus. Ich las alle möglichen Bücher über Zen und meditierte zu Hause. Ich praktizierte eine Art von »Wald- und Wiesen-Zen«. Aber die asketischen Praktiken des Zen konnten mich nicht überzeugen, und ich wandte mich – ich glaube, das war um die Zeit, als ich meine Stelle bekam – dem esoterischen Shingon-Buddhismus zu. Besonders interessierte ich mich für Kukai, den Begründer. Ich bestieg den Koyasan, unternahm in den Sommerferien eine Pilgertour durch Shikoku und besuchte den Toji-Tempel in Kyoto. Der japanische Buddhismus wird ja häufig als »Beerdigungs-Buddhismus« belächelt, Sie wissen schon – das einzige buddhistische Ritual, das die Leute einhalten.
    Immerhin hat er sich trotz aller Anfechtungen jahrhundertelang erhalten. Ich hoffte, unter den vielen traditionellen Schulen eine Richtung zu finden, die den ursprünglichen Buddhismus praktizierte, und schenkte den so genannten Neuen Religionen daher auch keine Aufmerksamkeit. Sie hatten sicher ihre Vorzüge, aber sie existierten allenfalls seit dreißig oder vierzig Jahren. Ich blieb beim Shingon-Buddhismus.
    Nachdem ich vier Jahre an der Grundschule unterrichtet hatte, bat man mich plötzlich, auf die Mittelschule zu wechseln. Die Mittelschule befand sich am gleichen Ort, nur auf der anderen Seite des Schulhofs. Eigentlich wäre ich lieber an der Grundschule geblieben, aber die Zahl der Grundschüler war zurückgegangen und die der Mittelschüler gewachsen, also wäre es nicht richtig gewesen, sich stur zu stellen.
    Als ich etwa vier Jahre an der Mittelschule unterrichtet hatte, stieß ich zum ersten Mal auf eine Aum-Publikation. In einem Buchladen fand ich eine dünne Zeitschrift mit dem Titel Mahayana . Ich kaufte und las sie. Es war etwa die vierte oder fünfte Ausgabe, mit einer Sonderseite über »Geheim-Yoga« darin. Darüber wollte ich unbedingt mehr erfahren.
    An einem Sonntag fuhr ich mit einem Kollegen nach Shinjuku, um Unterrichtsmaterial einzukaufen. Auf der Rückfahrt mit der Odakyu-Linie fiel uns ein, dass sich in der Nähe der Station Gotokuji in Setagaya ein Aum-Dojo befand. Wir hatten noch Zeit und beschlossen, es uns anzuschauen. Zufälligerweise hielt Herr Joyu gerade einen Vortrag mit dem Titel »Das Sammeln von Poa«. Poa bedeutet in diesem Zusammenhang die Steigerung des spirituellen Niveaus.
    Sein Vortrag beeindruckte mich stark. Zum Beispiel die Art, wie er Metaphern verwendete. Besonders die jüngeren Leute waren begeistert. Seine Antworten auf die Fragen, die im Anschluss an die Predigt gestellt wurden, waren ungeheuer präzise und genau auf jeden Fragenden zugeschnitten.
    Einen Monat später wurde ich Mitglied von Aum Shinrikyo. Ich stellte jedoch gleich klar, dass ich erst einmal für ein Viertel- oder ein halbes Jahr beitreten wolle. Es war nicht teuer. Die Aufnahmegebühr betrug nur 2000 oder 3000 Yen [20–30 Euro] und der Jahresbeitrag 10.000. Als Mitglied erhält man die Publikationen und darf an allen Vorträgen teilnehmen. Daneben gab es

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