Untergrundkrieg
Hätte er mich aufgefordert, mit ihm zu gehen, hätte ich es wahrscheinlich getan. Offenbar geht es hier auch sehr stark um zwischenmenschliche Beziehungen.
Murai war mein Vorgesetzter, aber er war kalt und distanziert. Hätte er es mir befohlen, hätte ich bestimmt nach den Gründen gefragt. Wenn er darauf bestanden und gesagt hätte: »Es ist eine unreine Arbeit, die für Aum notwendig ist und die du deshalb unbedingt erledigen musst«, hätte ich mich pro forma bereit erklärt und mich in letzter Minute aus dem Staub gemacht – hoffe ich zumindest. Wie Ken’ichi Hirose, der zwischendrin einmal aus der Bahn gestiegen ist, hätte ich mit mir gekämpft, aber am Ende sicher doch einen Ausweg gefunden.
Für Yoshihiro Inoue dagegen hegte ich große Sympathie. Bei ihm spürte ich eine religiöse Ernsthaftigkeit. Ihm hätte ich vermutlich in jeder Situation beigestanden und alles getan, um ihm zu helfen. Ehrlich gesagt, er hatte zu jener Zeit einen immensen Einfluss auf mich. Hätte er mich dazu gedrängt, hätte ich wahrscheinlich mitgemacht.
Aber die Dimension wäre eine andere gewesen. Damit will ich sagen, dass Logik oder Einsicht keine besonders große Rolle spielen. Andere Dinge motivieren Menschen mehr. So bezweifele ich auch stark, dass diejenigen, die den Befehl »Setzt Sarin frei« erhielten, in ihrer Situation überhaupt imstande waren, logisch zu denken. Ein logisch denkender Mensch hätte keine Schwierigkeiten gehabt zu entscheiden: »So was ist unmöglich, und das tue ich nicht.« Aber diese Leute hatten dazu nicht die Kraft. Sie gerieten in Panik und taten, was man ihnen sagte. In extremen Fällen von »Guruismus« – ein Ausdruck, den Lifton gebraucht – werden alle anderen Wertesysteme eines Individuums gelöscht. In der speziellen Situation – stelle ich mir vor – fehlte den Tätern einfach die geistige Kraft, an andere zu denken, sich klarzumachen, dass durch ihre Tat andere Menschen sterben würden.
Bei Aum Shinrikyo wurde das Ichgefühl eines Menschen unaufhaltsam zerstört, sosehr er sich auch wehrte. Kaum war man in die Gemeinschaft eingetreten, wurde einem von oben alles Mögliche aufgezwungen, und man wurde unentwegt wegen Ungehorsams und mangelnder Hingabe kritisiert und bestraft, bis man völlig gebrochen war. Ich konnte irgendwie durchhalten, aber viele andere, die mit mir zusammen eingetreten sind, wurden auf diese Weise gebrochen.
Murakami: Gut, aber wie hätten Sie reagiert, wenn Shoko Asahara persönlich Ihnen befohlen hätte: »Takahashi, du machst das!«?
Ich glaube, ich hätte ihm Fragen gestellt. Hätte er mir eine überzeugende Erklärung gegeben, hätte ich ihn zumindest angehört. Wenn nicht, hätte ich ihn so lange ausgefragt, bis die Sache für mich geklärt gewesen wäre. Schon das allein hätte mich als Täter disqualifiziert. Ich habe ihm einmal meine Meinung offen ins Gesicht gesagt. Damals sagte er nur, ich nähme wohl kein Blatt vor den Mund. Ich glaube nicht, dass Asahara oder Murai imstande gewesen wären, mich zu dem Anschlag zu bewegen, denn keiner von ihnen hat mir gegenüber je Offenheit gezeigt.
Murakami: Noch eine Frage. Sie haben gerade von »extremen Fällen von Guruismus« gesprochen, das heißt, Sie sehen sich als jemanden, der außerhalb dieses Guruismus stand, oder? Wenn ich recht verstehe, war jedoch gerade dieser »Guruismus« die Basis der Aum-Lehre. Liegt da nicht ein logischer Widerspruch?
Wie gesagt, ich hatte bereits nach der »Christus-Initiation« starke Zweifel an den Methoden von Aum. Damals habe ich meine Zweifel in einem Aufsatz ernsthaft dargelegt, aber niemand schenkte mir Beachtung. Ich war, was die Beziehung zwischen Anhängern und Guru betraf, völlig desillusioniert.
Murakami: Aber was hielt Sie dann noch bei Aum? Da war Shoko Asahara, da war die Lehre, und da waren Ihre Glaubensgenossen. Wer oder was war es?
Ich hatte nichts mehr. Der Gründer und die Gemeinschaft schieden aus, also setzte ich mein ganzes Vertrauen in Yoshihiro Inoue. Er war der Einzige, der mich noch bei Aum hielt.
Ich war sehr einsam. Isoliert. Ich musste für das Ministerium für Wissenschaft und Technik astrologische Berechnungen durchführen, was mich überhaupt nicht interessierte. Ich war an der Universität Doktorand der Naturwissenschaften gewesen und hatte nicht die geringste Lust, Daten über die Bewegungen der Planeten für irgendwelche fragwürdigen Unternehmungen wie Wahrsagerei zusammenzutragen. Übernatürliche Kräfte waren bei Aum ein
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