Untergrundkrieg
immerwährendes Thema, aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was sich Leute denken, die sich mit so etwas abgeben. Für mich ist das völlig abwegig.
Also, wo waren wir stehengeblieben: Obwohl mich eigentlich nichts mehr bei Aum hielt, trat ich nicht aus. Immerhin hatte ich alles hinter mir gelassen, alle Fotos von früher verbrannt, meine Tagebücher auch. Mich von meiner Freundin getrennt. Ich hatte nichts mehr.
Murakami: Aber Sie waren doch gerade einmal zwanzig. Entschuldigen Sie, aber ich finde, das ist ein Alter, in dem man noch gar nicht so viel hinter sich lassen kann.
Ja, kann sein, dass es nicht nach besonders viel aussieht … ( Lacht ) Aber ich bin – wie übrigens die meisten Aum-Anhänger – auch ein ziemlich sturer Typ. Wir haben die Neigung, sehr beharrlich und zielstrebig zu sein, selbst in Dingen, die anderen gar nicht so erstrebenswert erscheinen. Durch diese Art der Konzentration wird ein Gefühl von Erfüllung erzeugt, das Aum ausgezeichnet für sich zu nutzen verstand. Darum machten sie die asketischen Übungen auch so schwer. Je härter die Askese, desto stärker das Gefühl, etwas geleistet zu haben.
Als ich die Gelübde ablegte, war ich wie berauscht von dem Wissen, der Welt entsagt zu haben, auch wenn ich inzwischen bezweifle, dass dies ursprünglich wirklich mein Wunsch war. Vermutlich habe ich mich selbst belogen. Der Gasanschlag hat mir plötzlich die Augen geöffnet, und ich trat aus Aum aus. Und was ich für reine Mystik gehalten hatte, löste sich einfach in Luft auf. Als ob man aus dem Tiefschlaf geweckt wird, weil jemand »Es brennt!« schreit, und man sich plötzlich draußen wiederfindet. Ich werde diese Aum-Geschichte nie vergessen und mich mein ganzes Leben lang damit beschäftigen. Ich will vor diesem dunklen Teil meiner Geschichte nicht davonlaufen.
Murakami: Ich würde gern noch etwas über die Endzeitvorstellungen bei Aum erfahren. Was hatte das Ende, von dem Aum sprach, mit der jüdischen oder christlichen Apokalypse zu tun? Das »Tausendjährige Reich« ist ein westliches Konzept, und auch zwischen Nostradamus und dem Buddhismus gibt es keine Verbindung.
Das Armageddon von Aum Shinrikyo reicht, wie man es auch dreht und wendet, in keiner Weise an die christliche Vorstellung der Apokalypse heran, die ja in den Gesamtzusammenhang des Christentums eingebettet ist. Und die Ereignisse um Aum Shinrikyo lassen sich auch nicht aus dem Buddhismus und dem tibetischen esoterischen Buddhismus erklären.
Vorhin habe ich im Zusammenhang mit Nostradamus erwähnt, dass der Endzeitgedanke meines Erachtens nicht auf bestimmte Individuen oder Gruppen wie die Christen beschränkt ist, sondern dass wir alle mehr oder weniger davon betroffen sind.
Murakami: Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht genau, was Sie mit »Endzeitgedanken« meinen. Aber ich habe den Eindruck, dass dieser »Endzeitgedanke« ein Sterblichkeitsgefühl ist, das individuell und im Inneren eines Menschen aufgelöst werden muss.
Genau so ist es. Ich glaube, das »Ende« ist weniger ein Fixpunkt als vielmehr ein Prozess. Im Zusammenhang mit einer Endzeitvision tritt immer eine Art von Reinigungsbewegung auf den Plan. In diesem Sinne halte ich den Aum-Anschlag für eine Katharsis, ein kollektives psychologisches Ventil für alles, was sich in den Japanern bis dahin an Deformierungen des Bewusstseins aufgestaut hatte. Nicht, dass mit dem Anschlag jetzt alles erledigt wäre. Der Endzeitgedanke, der die Gesellschaft wie ein Virus befallen hat, ist weder verschwunden noch verarbeitet, sondern unterschwellig immer noch vorhanden.
Auch wenn man sich als Individuum davon befreien kann, bleibt er für die Gesellschaft weiterhin von Bedeutung.
Murakami: Auch wenn Sie jetzt von der Gesellschaft insgesamt sprechen, werden doch normale Menschen – also solche, die eine gewisse Balance in ihrem Leben halten – diese virusartige Endzeitstimmung, von der Sie sprechen, auf ihre Weise abbauen und etwas anderes an deren Stelle setzen. Oder was meinen Sie?
Genau, es geht um den Abbau dieses Endzeitgefühls. Er muss unbedingt stattfinden. Da Asahara dies nicht gelungen ist, wurde er davon überrollt. Darum musste er selbst eine Krise schaffen. Das unverarbeitete Gefühl von Sterblichkeit des religiösen Menschen Shoko Asahara mündete in eine größere Endzeitvision.
Ich bin immer noch dabei, den Aum-Anschlag für mich zu verarbeiten, und besuche, sooft es geht, die Gerichtsverhandlungen. Wenn ich Shoko Asaharas Verhalten im
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