Untergrundkrieg
– unterstützt durch die Medien – tief in mein Bewusstsein eingegraben. Und das ist nicht nur meine persönliche Wahrnehmung. Vom Lebensgefühl einer Generation zu sprechen wäre vielleicht zu platt, aber ich glaube doch, dass sich damals bei vielen Japanern die Vorstellung »1999 geht die Welt unter« festgesetzt hat. Die Leute, die bei Aum der Welt entsagt haben, hatten diesen Weltuntergang bereits voll akzeptiert. Kurz, Aum Shinrikyo war eine Vereinigung von Personen, die klar mit einem absehbaren Ende der Welt rechneten. Menschen, die auf eine Zukunft hoffen, haben noch eine Bindung an die Welt. Und wer Bindungen hat, wird nicht auf sein Selbst verzichten. Die Aum-Leute dagegen sprangen von einer Klippe ins Nichts, in die »Selbstlosigkeit« im wahrsten Sinne des Wortes, und dieser Sprung war für sie ein herrliches Gefühl. Schon deshalb hat sich die Sache für sie gelohnt.
Ich halte »das Ende« für den Dreh- und Angelpunkt von Aum Shinrikyo. Armageddon ist nah, entsagt der Welt, drängte Asahara, und gebt Aum euer Geld. Auf diese Weise hatte die Gemeinschaft auch ihr Einkommen.
Murakami: Aber es gab schon viele Sekten, die den Weltuntergang verkauft haben. Die Zeugen Jehovas zum Beispiel, oder die Branch Davidians in Waco. Wodurch unterschied Aum sich von ihnen?
Robert Jay Lifton 34 schreibt, dass sich zwar zahlreiche Sekten zu einer apokalyptischen Lehre bekennen, dass jedoch keine von ihnen in ihrem Programm so zielstrebig und real auf einen Untergang zugesteuert ist wie Aum. Er nennt das »das Erzwingen des Endes«. Diese Beobachtung finde ich sehr einleuchtend.
Auf der Uni haben mehrere neue Religionen versucht, mich für sich zu gewinnen. Aber die Einzige von diesen Gemeinschaften, die engagiert und auf einer realen Grundlage über die Entwicklung der Welt nachdachte, die ernsthafte religiöse Konzepte anzubieten hatte, die einen ihren Ideen entsprechenden Lebensstil entworfen hatte und ihn konsequent praktizierte, war Aum Shinrikyo. Dagegen wirkten die anderen Gemeinschaften unrealistisch, behäbig, lahm und farblos. Die Schulung bei Aum war sehr hart. Die Doktrin, dass man erst den eigenen Körper verändern muss, bevor man die Welt verändern kann, wurde gnadenlos in die Realität umgesetzt. Damals war ich selbst davon überzeugt, dass dies der einzig wahre Weg zur Befreiung ist.
Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: Auf der Welt herrscht Nahrungsmangel; doch wenn alle Menschen ihren Nahrungsverbrauch entsprechend der Aum-Ernährung allmählich zurückschrauben würden, wäre das Problem gelöst. Und zwar nicht durch eine Vermehrung der Ressourcen, sondern durch die Anpassung des menschlichen Körpers. An so etwas habe ich damals auch geglaubt. Aum-Anhänger essen nur sehr wenig. Wenn die Menschen im Einklang mit der Erde leben wollen, werden wir uns wohl eines Tages so verhalten müssen.
Murakami: Das erinnert mich an den Roman »Slapstick« von Kurt Vonnegut, in dem die Chinesen auf die Hälfte ihrer Größe schrumpfen, um das Welternährungsproblem zu lösen.
Interessant. – Eigentlich bin ich Aum Shinrikyo ja zweimal beigetreten. Beim zweiten Mal war die Atmosphäre von Gewalt schon so deutlich spürbar, dass ich zuerst sogar dachte, mein Beitritt sei vielleicht doch ein Fehler gewesen. Die Laienmitglieder in den Ortsgruppen bekamen nur die heitere, milde Seite von Aum zu Gesicht, aber in Kamikuishiki, wo nur Mönche und Nonnen lebten, Menschen, die allem entsagt hatten, brodelte es, und man spürte bereits die Verzweiflung von Leuten, die in die Enge getrieben waren.
Nach meinem Eintritt arbeitete ich sofort an der Herstellung von Kosmo-Saugern. Zu der Zeit behauptete Aum bereits, man werde von außen mit Sarin angegriffen, und diese Kosmo-Sauger dienten dazu, die Giftstoffe zu filtern.
Eigentlich war es eine Predigt des Gründers gewesen, die mich endgültig überzeugt hatte. »Man hat mich mit Giftgas besprüht«, brachte er unter fortwährendem Husten hervor. Er war ganz blau im Gesicht und wirkte sehr schwach. Es sah enorm echt aus. »Mir bleibt nur noch ein Monat. Dann wird Aum aufgelöst. Bis dahin möchte ich alle, die an mich glauben, um mich versammeln«, fuhr er fort. »Ihr werdet mein Schild sein.« Die Predigt war wirklich ergreifend und brachte die Laienmitglieder dazu, sich beschämt zu fragen, ob sie es mit ihrem Gewissen noch vereinbaren konnten, den Gründer und die Gemeinschaft in einer solchen Notlage nicht mit aller Kraft zu unterstützen. An diesem Tag
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