Untergrundkrieg
heißes und wärmte eine Stunde lang meine Augen. Dann waren sie wieder in Ordnung. Ich sah den blauen Himmel wieder. Bis dahin war er schwarz gewesen. Ich hatte die Gegenstände zwar sehen können, aber nicht ihre Farben.
Ich arbeitete, als wäre nichts gewesen. Um zehn rief meine Frau an. »In der U-Bahn ist etwas Schlimmes passiert, aber dir geht es doch gut, oder?« Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte, und antwortete: »Ja, mir geht’s prima.« Immerhin waren meine Augen ja wieder in Ordnung.
Beim Mittagessen in einem Nudellokal in der Nähe sah ich im Fernsehen, was los war. Ich hatte zwar den ganzen Morgen über in der Nähe Sirenen heulen gehört, aber nicht darauf geachtet. Im Fernsehen hörte ich zum ersten Mal, dass es einen Sarin-Anschlag gegeben habe. Als sie sagten, die Pupillen der Opfer seien verengt, sodass alles dunkel erscheine, dachte ich: »Aha, wie bei mir.« Aber inzwischen waren meine Augen ja wieder in Ordnung, und ich zog keine Schlüsse.
Ich ließ meine Augen im Nakano-Krankenhaus untersuchen. Sobald sie meine verengten Pupillen sahen, spritzten sie mir ein Gegenmittel und hängten mich an den Tropf. Eine Blutuntersuchung ergab, dass mein Cholinesterase-Wert sehr niedrig war. Ich sollte im Krankenhaus bleiben, bis er wieder normal war. Ich rief also im Büro an: »Ich bin im Krankenhaus. Für wie lange, weiß ich noch nicht. Tut mir leid, aber könntet ihr meinen Schreibtisch aufräumen?« Dann rief ich zu Hause an, und meine Frau schimpfte mit mir, weil ich gesagt hatte, es ginge mir prima ( lacht ).
Insgesamt war ich sechs Tage im Krankenhaus. In dieser Zeit hatte ich eigentlich keine Schmerzen. Obwohl ich direkt neben dem Sarin gestanden hatte, waren meine Symptome merkwürdigerweise sehr schwach. Bestimmt hatte der Wind das Gas von mir weggeblasen. In der Bahn weht immer ein Luftzug von vorne nach hinten durch, deshalb wäre es schlimmer gewesen, wenn ich hinten gesessen hätte, wenn auch nur für ein oder zwei Stationen. Das nennt man Schicksal.
Ich habe auch seither keine Angst, mit der U-Bahn zu fahren. Alpträume habe ich auch nicht. Vielleicht habe ich einfach ein dickes Fell, aber eigentlich finde ich, dass es Schicksal war. Zum Beispiel steige ich normalerweise nie durch die erste Tür in den dritten Wagen ein, ich nehme immer die zweite. Dann hätte der Fahrtwind das Sarin zu mir hingeweht. Aber ausgerechnet an dem Tag bin ich zufällig ohne besonderen Grund in die erste Tür eingestiegen. Purer Zufall.
Mein Leben lang habe ich mich nie besonders vom Glück begünstigt gefühlt. Richtiges Pech hatte ich allerdings auch nie. Ich hatte ein ziemlich ereignisloses, durchschnittliches Leben … und dann kommt so was.
»Wenn nicht ich, dann hätte eben jemand anders die Beutel mit Sarin aufgehoben«
Sumio Nishimura (46)
Herr Nishimura ist stellvertretender Stationsvorsteher am Bahnhof Nakano-Sakaue. Er war es, der die Beutel mit Sarin aus der Marunouchi-Bahn entfernte.
Herr Nishimura lebt in der Präfektur Saitama und hat zwei Töchter. Die Stelle bei der U-Bahn hat er durch die Vermittlung eines Schulfreundes bekommen. Stellen bei der Bahn gelten als etwas »Sicheres« und sind auf dem Land hoch angesehen. Deshalb war Herr Nishimura sehr froh, als er 1969 die Einstellungsprüfung bestand.
Er ist von durchschnittlicher Größe und eher schmal. Seine Gesichtsfarbe ist gesund, sein Blick fest. Wenn ich zufällig in einer Kneipe neben ihm säße, fiele es mir vermutlich schwer zu erraten, welchen Beruf er ausübt. Auf den ersten Blick wüsste ich, dass er nicht der Typ für eine sitzende Tätigkeit ist. Beim näheren Hinsehen könnte man sich denken, dass er für seine Arbeit gute Nerven braucht. Deshalb ist es sein größtes Vergnügen, nach der Arbeit mit seinen Freunden noch Sake zu trinken.
Herr Nishimura hat sich freundlicherweise bereit erklärt, seine Geschichte zu erzählen, obwohl er offenkundig ungern über den Anschlag spricht – oder, wie er es ausdrückte, »nicht daran rühren möchte«. Der Anschlag war für ihn natürlich ein grauenhaftes Erlebnis, das er so schnell wie möglich aus seinem Gedächtnis streichen möchte.
Das gilt wahrscheinlich nicht nur für Herrn Nishimura, sondern für das gesamte Personal. Das Tokyoter U-Bahn-System möglichst reibungslos und ohne Zwischenfälle funktionsfähig zu halten, ist ihr wichtigstes und beinahe einziges Ziel. Sie wollen die Vergangenheit nicht unnötig wiederkäuen. Deshalb war es auch nicht ganz
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