Untergrundkrieg
angefasst habe, bin ich wirklich glimpflich davongekommen. Vielleicht hatte es auch mit der Windrichtung im U-Bahn-Schacht zu tun. Wahrscheinlich habe ich die Beutel aufgehoben, ohne die Dämpfe direkt einzuatmen. Denn einige, die das Zeug an den anderen Bahnhöfen angefasst haben, sind gestorben. Ich bin ziemlich trinkfest, und meine Kollegen sagen, das war’s, was mich gerettet hat. Weil ich nicht so leicht einen Rausch bekomme. Ich weiß es nicht.
Ich habe eigentlich nie wirklich gegeglaubt, dass ich auch hätte sterben können. Meine Augen taten weh, und ich schlief den ganzen Tag. Nicht mal fernsehen konnte ich. Nachts war mir ziemlich langweilig, aber ich war relativ entspannt, weil die schlimmsten körperlichen Beschwerden ziemlich schnell vorbei waren. Am 25. März wurde ich entlassen und ging ab 1. April wieder zur Arbeit. Ich langweilte mich zu Hause und fand es an der Zeit, mal wieder rauszukommen und zu arbeiten.
Die Täter von Aum habe ich, offen gesagt, am Anfang gar nicht gehasst. Vielleicht, weil ich nicht genau wusste, wer sie waren.
Aber je mehr Tatsachen ans Licht kamen, desto wütender wurde ich. Es ist unverzeihlich, völlig arglose Unbeteiligte zu töten. Zwei meiner Kollegen sind durch die Schuld dieser Leute ums Leben gekommen. Ich weiß nicht, ob ich mich beherrschen könnte, wenn ich die Gelegenheit hätte, sie zusammenzuschlagen. Selbstverständlich sollten sie zum Tode verurteilt werden. Manche sind ja für die Abschaffung der Todesstrafe, aber Verbrecher, die so etwas getan haben, kann man doch nicht begnadigen.
Die Beutel mit dem Sarin habe ich nur aufgehoben, weil ich eben gerade da war. Wenn nicht ich, dann hätte es eben ein anderer getan. Arbeit bedeutet, seine Pflicht zu erfüllen. Wegschauen kann man nicht.
»Es ging mir ziemlich schlecht, trotzdem habe ich ganz nach Plan meine Milch gekauft«
Koichi Sakata (50)
Herr Sakata lebt in Futamatagawa in der Nähe von Tokyo. Er lebt mit seiner Frau und seiner Mutter in einem erst kürzlich renovierten, hellen geschmackvollen Haus. Geboren ist er in Shinkyo (heute Changchun) in der japanisch besetzten Mandschurei. Sein Vater war Soldat und starb während des Krieges an Typhus. Danach heiratete Herrn Sakatas Mutter den älteren Bruder ihres verstorbenen Mannes.
Als Buchhalter ist Herr Sakata äußerst genau im Umgang mit seinen Papieren. Zu jeder meiner Fragen konnte er einen Zeitungsausschnitt, eine Quittung oder eine Notiz aus seiner Ablage hinzuziehen. Bewundernswert. Ich vermute, dass er in seinem Büro ebenso gewissenhaft vorgeht. Natürlich ist auch seine Wohnung sehr aufgeräumt.
Sein Hobby ist Go. Außerdem spielt er gerne Golf, obwohl er so viel im Büro zu tun hat, dass er nur etwa fünfmal im Jahr dazu kommt, Golf zu spielen. Er ist körperlich robust und war noch nie krank – bis er infolge des Sarin-Anschlags zum ersten Mal in seinem Leben im Krankenhaus war.
Ich arbeite seit elf Jahren für eine Gesellschaft, die Asphalt für den Straßenbau herstellt. Ich habe mehrmals die Stelle gewechselt. Das ist jetzt meine dritte Firma, aber immer hatte ich mit Öl zu tun. In meiner ehemaligen Firma gab es Probleme mit der Geschäftsleitung, also haben wir uns zusammengetan und sind – eins, zwei, drei – abgesprungen. Und haben aus dem Nichts eine Firma aufgebaut.
Ob ich viel zu tun habe? Es geht. Nicht so viel wie vorher in der Bubble-Economy. Jetzt wo sie am Ende ist, stagnieren die Geschäfte im Baugewerbe. Dann der Niedergang der Ölindustrie. Unsere Zulieferfirmen können jetzt billigeres Öl aus dem Ausland beziehen, und wir müssen Umstrukturierungen vornehmen.
Ich verlasse das Haus um sieben und gehe die anderthalb Kilometer zum Bahnhof in zwanzig Minuten zu Fuß, als Training. Mein Blutzuckerspiegel ist in letzter Zeit zu hoch, also tut mir Bewegung nur gut. Von Futamatagawa fahre ich mit der Sotetsu-Linie nach Yokohama, von dort mit der Yokosuka-Linie bis zum Bahnhof Tokyo und nehme zum Schluss eine Marunouchi-Bahn bis nach Shinjuku-Sanchome.
Dazu brauche ich etwa anderthalb Stunden. Ab Ginza oder Kasumigaseki bekomme ich meist einen Sitzplatz, also ist es ganz bequem.
Am 20. März, dem Tag des Anschlags, ist meine Frau wegen einer Gedenkfeier für ihren verstorbenen Vater zu ihrer Familie gefahren. Sie war also nicht zu Hause. Ich machte mich wie immer auf den Weg und stieg am Bahnhof Tokyo in die Marunouchi-Bahn, in den dritten Wagen von vorn. Das mache ich immer, wenn ich Milch kaufen will.
Murakami:
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