Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
man spürt, dass er stolz auf sein Berufsleben zurückblickt, das er kurz nach dem Krieg aufgenommen hat. Er macht den Eindruck, als könne er noch jahrelang weiterarbeiten.
    Herr Inagawa stammt aus Kofu, einer Provinzstadt in den Bergen, zwei Stunden westlich von Tokyo. Nach seinem Abschluss auf einer Berufsfachschule für Elektriker kam er 1949 nach Tokyo und fing bei einer Baufirma an. Im Laufe der Zeit wechselte er von der Baustelle in die Verwaltung über und ging mit sechzig als Leiter der Geschäftsabteilung in den Ruhestand. Andere Stellen wurden ihm angeboten, aber: »Ich hatte plötzlich die Nase voll von Vorgesetzten.« Er und zwei gleichaltrige Freunde beschlossen, eine eigene Firma für Beleuchtungsartikel zu gründen. Ihr Büro befindet sich direkt über dem Bahnhof Shin-Nakano.
    Die Geschäfte gehen gut, wenn auch nicht übermäßig. »Aber es ist ein herrliches Gefühl, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein.«
    Herr Inagawa und seine Frau leben in Ichikawa. Ihre beiden Kinder sind ausgezogen, und die Inagawas haben drei Enkelkinder, von denen das jüngste erst nach dem Sarin-Anschlag geboren ist.
    Herr Inagawa trägt immer zwei Glücksbringer bei sich, die ihm seine Frau gegeben hat, auch wenn er eigentlich an solche Dinge nicht glaubt.

    Ich gehe um 7.25 aus dem Haus, damit ich um zwanzig vor neun im Büro bin. Wir fangen um neun an, aber es ist ja meine Firma, da muss ich es nicht so genau nehmen.
    Am 20. März hatte ich ab Ochanomizu einen Sitzplatz, weil da viele Leute umsteigen. Ich stieg in Shinjuku in die Marunouchi-Linie um und bekam sogar wieder einen Sitzplatz. Ich steige immer in den dritten Wagen von vorne ein.
    An dem Tag saß ich auf dem ersten Sitz im dritten Wagen. Da sah ich, wie sich zwischen den Sitzen eine Pfütze ausbreitete, als würde irgendwo eine Flüssigkeit auslaufen. Ich wusste nicht, was es war, jedenfalls hatte es die Farbe von Bier. Außerdem roch es komisch, es stank sogar. Deshalb wurde ich auch darauf aufmerksam.
    Die Bahn war ungewöhnlich leer. Normalerweise ist sie so voll, dass man keinen Sitzplatz kriegt, aber damals stand niemand, und auch nur wenige Leute saßen. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass wahrscheinlich der merkwürdige Geruch die Fahrgäste vertrieben hatte.
    Ein Mann, der ganz allein neben der Sarin-Pfütze saß, beunruhigte mich. Als ich einstieg, dachte ich, er sei eingeschlafen, aber allmählich rutschte er immer mehr nach unten. »Komisch«, dachte ich. »Ob ihm schlecht ist?« Dann hörte ich kurz vor Nakano-Sakaue ein dumpfes Geräusch. Ich hatte gelesen, aber als ich aufschaute, sah ich, dass der Mann vom Sitz gefallen war und mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden lag.
    Du meine Güte, dachte ich. Wir waren kurz vor der Station. Sobald die Tür aufging, sprang ich aus dem Zug, um Hilfe zu holen. Aber ein junger Mann rannte an mir vorbei nach vorn und holte einen Bahnbeamten.
    Dem Mann, der ohnmächtig geworden war, gegenüber saß eine Frau, die auch in schlechtem Zustand zu sein schien. Sie war so zwischen vierzig und fünfzig – ich kann das Alter bei Frauen so schlecht schätzen. Jedenfalls eine Frau in mittlerem Alter. Der Mann war älter. Der Bahnbeamte schaffte es, ihn allein aus der Bahn zu ziehen, dann kam noch einer, und sie trugen zu zweit die Frau raus. Ich stand währenddessen auf dem Bahnsteig.
    In der Zwischenzeit hatte ein Bahnbeamter eine Tüte mit einer Flüssigkeit aufgehoben und auf den Bahnsteig gebracht. Niemand wusste, dass Sarin darin war, sie war einfach ein verdächtiger Gegenstand, der aus dem Zug entfernt werden musste. Ich stieg in einen anderen Wagen wieder ein, denn ich wollte nicht in dem Gestank bleiben, und die Bahn fuhr weiter. An der nächsten Station in Shin-Nakano stieg ich aus.
    Aber als ich durch die U-Bahn-Gänge lief, begann meine Nase zu laufen. Dann musste ich niesen und husten. »Jetzt kriege ich auch noch eine Erkältung«, dachte ich. Plötzlich wurde es auch noch dämmrig vor meinen Augen. Das passierte alles fast gleichzeitig. Ich wunderte mich, denn sonst fühlte ich mich noch ganz gut. Ich war hellwach und konnte gehen.
    Wie gesagt, unser Büro liegt direkt über dem Bahnhof, und ich ging hinauf. Noch immer war es dunkel. Das Naselaufen und der Husten hatten auch nicht aufgehört. »Mir ist nicht so gut, ich lege mich ein bisschen hin«, sagte ich und legte mich mit einem kühlen Tuch über den Augen aufs Sofa. Ein Kollege empfahl mir, ein warmes Tuch zu nehmen, also nahm ich ein

Weitere Kostenlose Bücher