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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Wenn Sie Milch kaufen wollen?
    Ja, wenn ich Milch kaufen will, steige ich in Shinjuku-Gyoenmae aus. Ich trinke immer Milch zum Mittagessen und kaufe mir in einem Laden in der Nähe jeden zweiten Morgen die Menge, die ich für zwei Tage brauche. Wenn ich keine kaufe, steige ich in Shinjuku-Sanchome aus und fahre im letzten Wagen. Aber weil an dem Tag mein Milchtag war, wurde ich Opfer des Sarin-Anschlags. Das nenne ich Pech.
    Schon am Bahnhof Tokyo bekam ich einen Sitzplatz. Hirose, der Täter, hat ausgesagt, er sei zuerst in den zweiten Wagen eingestiegen, habe ihn unterwegs einmal verlassen und sei dann in den dritten Wagen wieder eingestiegen. Er durchstach die Sarin-Beutel in Ochanomizu, und zwar genau da, wo ich saß, nämlich an der mittleren Tür des dritten Wagens. Ich war zu sehr in die Lektüre der Zeitschrift Diamond vertieft, um etwas zu bemerken. Wie das denn sein könne, hat mich später der Inspektor gelöchert, aber so war es eben. Ich hatte sogar das ungute Gefühl, dass er mich verdächtigte.
    Bald wurde mir komisch. Auf der Höhe von Yotsuya fühlte ich mich richtig schlecht. Mir lief auf einmal die Nase. Ich dachte, ich hätte mich erkältet, weil mir auch der Kopf dröhnte und mir vor den Augen alles dunkel wurde, als hätte ich eine Sonnenbrille auf.
    Erst befürchtete ich, es sei eine Gehirnblutung oder so. So etwas hatte ich noch nie erlebt, deshalb nahm ich natürlich das Schlimmste an. Nur von einer Erkältung konnte das nicht kommen, es musste etwas Gravierendes sein. Ich hatte das Gefühl, gleich umzukippen.
    Ich erinnere mich fast gar nicht an die anderen Leute im Wagen. Ich war zu sehr mit meinem eigenen Zustand beschäftigt, um auf meine Umgebung zu achten. Irgendwann erreichte die Bahn Shinjuku-Gyoenmae, und ich stieg aus. Mir war schwindlig, und alles um mich her war schwarz. »Das war’s«, dachte ich. Das Gehen fiel mir entsetzlich schwer. Ich tastete mich in Richtung Ausgang zur Treppe vor. Als ich draußen ankam, war es so stockfinster wie in der Nacht. Es ging mir sehr schlecht, aber trotzdem kaufte ich meine Milch wie immer. Ist das nicht merkwürdig? Ich ging in den Supermarkt und kaufte Milch. Ich kam gar nicht auf den Gedanken, es nicht zu tun. Nachträglich ist es mir ein Rätsel, warum ich in dem Zustand noch Milch kaufen gegangen bin …
    Ich schlich ins Büro und legte mich auf die Couch im Foyer. Aber mir wurde einfach nicht besser, sodass eine Kollegin mir riet, ein Krankenhaus aufzusuchen. Also machte ich mich gegen neun Uhr ins Shinjuku-Krankenhaus auf, das ist ja nicht weit. Während ich dort wartete, kam ein Büroangestellter in die Aufnahme und redete davon, dass ihm in der U-Bahn komisch geworden sei. Da dachte ich: »Der hat bestimmt das Gleiche. Eine Gehirnblutung.«
    Ich blieb fünf Tage im Krankenhaus. Ich wäre gern früher entlassen worden, aber mein Cholinesterase-Wert war noch nicht wieder normal. »Kurieren Sie sich erst mal gründlich aus«, hat der Arzt gesagt. Trotzdem bin ich früher gegangen. »Ich muss am Samstag zu einer Hochzeit«, habe ich ihnen gesagt. Es dauerte aber zwei Wochen, bis ich wieder besser sehen konnte. Eigentlich sehe ich immer noch schlecht. Ich fahre zwar Auto, aber im Dunkeln kann ich die Schilder kaum erkennen. Ich habe mir eine neue, stärkere Brille machen lassen. Als ich vor kurzem auf einer Versammlung der Opfer des Anschlags war, hat der Anwalt gesagt, alle, die jetzt schlechter sehen als vorher, sollten sich melden. Viele Hände gingen hoch. Also liegt es am Sarin.
    Mein Gedächtnis ist übrigens auch viel schlechter geworden. Ich komme einfach nicht mehr auf die Namen von Leuten. Weil ich viel mit Leuten von Banken zu tun habe, stecke ich mir immer einen Merkzettel in die Tasche, auf dem steht, wer Filialleiter von welcher Bank ist … Früher ist mir das ganz leicht gefallen. Außerdem liebe ich Go und spiele fast jeden Tag in der Mittagspause. Aber kurz danach weiß ich schon nicht mehr, wie ein Spiel ausgegangen ist. Zuerst glaubte ich, es läge am Alter, aber das allein kann es nicht sein. Diese Vergesslichkeit beunruhigt mich sehr. Inzwischen ist erst ein Jahr vergangen, aber was wird in zwei oder drei Jahren sein? Bleibt das so oder verschlimmert es sich?
    Ich habe keine besondere Wut auf die Täter. Anscheinend sind sie von ihrer Sekte benutzt worden. Auch wenn ich Asahara im Fernsehen sehe, bin ich nicht von Hass erfüllt. Ich finde, man sollte stattdessen stärker den wirklich schwer verletzten Opfern

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