Untergrundkrieg
sie war diejenige, die Shizuko im Notfall als Erste angerufen hätte. Aber sie hatte sich nicht gemeldet. »Dann wird wohl alles in Ordnung sein. Wahrscheinlich ist sie schon bei ihrem Seminar«, sagte ich zu meiner Mutter. Aber irgendwie beunruhigte es mich, dass ich mich nicht mit ihr in Verbindung setzen konnte. Zeitlich konnte sie sehr wohl in dem fraglichen Zug gesessen haben. »Es muss ja nichts Schlimmes passiert sein. Sich Sorgen zu machen, nützt auch nichts«, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Trotzdem wurde ich immer unruhiger. Ich war gerade mit dem Firmenwagen unterwegs zu einem Kunden, als mein Büro mich anrief – ich solle mich dringend bei meiner Mutter melden. Das war zwischen halb elf und elf. »Die Polizei hat angerufen«, sagte sie. »Shizuko wurde in der U-Bahn verletzt und ist ins Krankenhaus gebracht worden. Du musst sofort hinfahren.«
Ich raste in die Firma zurück, fuhr mit der Bahn nach Shinjuku und kam gegen zwölf im Krankenhaus an. Ich hatte vom Büro aus schon dort angerufen, aber nicht viel über ihren Zustand in Erfahrung bringen können. Als ich fragte, ob sie in Lebensgefahr sei, hieß es, sie liege im Koma. Wie kritisch ihr Zustand war, wusste ich nicht, denn auch Familienmitgliedern wird nur persönlich Auskunft erteilt.
In der Notaufnahme wimmelte es nur so von Opfern des Anschlags. Sie bekamen Infusionen oder wurden gerade untersucht. Im Fernsehen hatten sie etwas von Giftgas gesagt, aber sonst nichts Genaues. Man erklärte mir mit einfachen Worten, dass meine Schwester eine pestizidähnliche Chemikalie eingeatmet hatte.
Ich durfte nicht einmal gleich zu ihr, obwohl ich ihren Zustand unbedingt mit eigenen Augen sehen wollte, aber man sagte mir gar nichts und ließ mich nicht auf die Station. Im Krankenhaus herrschte ein unglaublicher Betrieb und großes Chaos. Shizuko lag auf der Intensivstation. Auch später konnte ich sie nur tagsüber von halb eins bis eins und abends von sieben bis acht sehen.
Murakami: Aber am ersten Tag konnten Sie sie überhaupt nicht sehen?
Doch, ich wartete zwei furchtbare Stunden lang. Schließlich durfte ich ganz kurz zu ihr. Sie trug ein Krankenhausnachthemd und war an ein Dialysegerät angeschlossen. Ihre Nieren waren sehr schwach und konnten das viele Gift in ihrem Blut nicht ohne Hilfe herausfiltern. Sie hing an mehreren Schläuchen gleichzeitig. Ihre Augen waren geschlossen. Die Krankenschwester sagte mir, sie schliefe. Als ich sie berühren wollte, hielt der Arzt mich davon ab, weil ich keine Handschuhe trug.
Als ich ihr ins Ohr flüsterte: »Shizuko, ich bin’s, Tatsuo, dein Bruder«, schien sie ganz leicht zu zucken. Damals dachte ich, sie hätte meine Stimme gehört, aber der Arzt sagte, das sei unmöglich. Wahrscheinlich habe sie nur im Schlaf einen Muskelkrampf gehabt. Sie habe Spasmen, seit sie eingeliefert worden war.
Es hört sich schrecklich an, aber ihr Gesicht sah aus wie das einer Toten, nicht einer Schlafenden. Sie hatte eine Sauerstoffmaske über dem Mund, und ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Kein Zeichen von Schmerz oder Qual. Das Gerät, das ihren Herzschlag aufzeichnete, schlug kaum aus. Nur ab und zu flackerte es ein bisschen. So schlecht ging es ihr. Dieser Anblick tat mir sehr weh.
»Offen gesagt ist ihr Zustand äußerst kritisch«, erklärte mir der Arzt. »Heute Nacht wird sich alles entscheiden. Sie bekommt hier alles, was sie braucht. Bitte, lassen Sie sie jetzt allein.«
Ich verbrachte die Nacht im Wartesaal des Krankenhauses, falls sich etwas ereignen sollte. Als ich bei Tagesanbruch nach ihrem Befinden fragte, hieß es, ihr Zustand sei augenblicklich stabil.
Am Abend [des 20. März] waren auch meine Eltern, meine Frau und die Kinder ins Krankenhaus gekommen. Es war ja nicht abzusehen, was passieren würde, also sollten sie auch dabei sein. Die Kinder waren natürlich noch zu klein, um zu verstehen, was los war. Aber als ich sie sah, löste sich meine Anspannung, und ich fing an zu weinen. »Es ist etwas Schlimmes mit Tante Shizu passiert«, sagte ich. Die Kinder sind furchtbar erschrocken. Sie wussten, dass es wirklich etwas Schlimmes war, denn sie hatten mich noch nie weinen sehen. »Papa, Papa, wein doch nicht!« Sie versuchten mich zu trösten, und dann heulten wir alle. Meine Eltern sind noch von der alten Schule und bemühten sich, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Im Krankenhaus rissen sie sich die ganze Zeit zusammen, aber zu Hause haben sie die ganze Nacht geweint.
Meine Frau und ich
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