Untergrundkrieg
»Gut, ich bringe dich mit dem Auto zum Bahnhof.« Ich muss sowieso die Kinder zum Kindergarten und meine Frau zum Bahnhof fahren. Anschließend stelle ich den Wagen ab und fahre mit der Bahn zur Arbeit.
Aber meine Schwester sagte: »Ach, mach dir keine Umstände. Ich fahre mit der Vorortbahn bis zur Saikyo-Linie und steige dann später in die Marunouchi-Bahn um.« Darauf sagte ich: »Das dauert ewig. Am besten, du fährst gleich nach Kasumigaseki und steigst dort in die Marunouchi-Linie um.« Hätte ich das nur nicht gesagt. Nachträglich weiß ich, dass Shizuko, wenn ich das nicht vorgeschlagen hätte, wahrscheinlich nicht Opfer des Anschlags geworden wäre.
Shizuko verreiste sehr gern. Sie hatte eine sehr gute Freundin aus der Schulzeit, mit der sie ab und zu Urlaub machte. Aber in einem Supermarkt ist es nicht wie in einer normalen Firma, die Angestellten bekommen selten drei oder vier Tage am Stück frei. Deshalb musste sie sich immer eine ruhige Zeit aussuchen und jemanden finden, der sie vertrat, wenn sie freinehmen wollte.
Sie war ganz verrückt nach Disneyland und war mehrmals mit ihrer Freundin dort. Und manchmal, wenn sie sonntags frei hatte, lud sie uns alle dorthin ein. Davon haben wir noch Fotos. Shizuko mochte diese wilden Fahrten – wie Achterbahn und so. Meine Frau und mein Sohn sind genauso. Ich hasse diese Dinger. Während die drei sich also auf diesen grässlichen Geräten amüsierten, fuhr ich mit der Kleinen Karussell. »Amüsiert euch nur, ich warte hier«, sagte ich immer. Doch, wenn wir zusammen etwas unternahmen, war es meistens Disneyland.
Zu besonderen Gelegenheiten kaufte Shizuko immer Geschenke für uns. Zum Beispiel, wenn unsere Eltern oder die Kinder Geburtstag hatten, oder zu unserem Hochzeitstag. Sie hatte alle Daten im Kopf und wusste, was jeder sich besonders wünschte. Sie trank selbst nie Alkohol, fand aber heraus, welche Marken gut waren, und schenkte sie dann unseren Eltern. Sie war immer so lieb und aufmerksam. Von jeder Reise brachte sie Geschenke für uns und Teegebäck für ihre Kollegen mit.
Sie gab sich unheimlich Mühe, an ihrem Arbeitsplatz gute Beziehungen zu pflegen, und nahm sich das winzigste Problem, die beiläufigste Bemerkung sehr zu Herzen. Sie ist ein Mensch, der es allen recht machen möchte.
Murakami: Entschuldigen Sie, wenn ich diese Frage stelle, aber wollte Shizuko denn nie heiraten?
Doch, es gab auch Kandidaten, aber entweder wohnten sie zu weit weg oder sie hatte das Gefühl, sich nicht mehr genug um unsere Eltern kümmern zu können, also wurde am Ende nichts daraus. Ich habe geheiratet und bin ausgezogen, also verspürte sie die Verpflichtung, sich um unsere Eltern zu kümmern. Die Knie meiner Mutter wollten nicht mehr richtig, und sie musste damals schon am Stock gehen. Shizuko hat ein starkes Verantwortungsbewusstsein. Ein viel stärkeres als ich.
Außerdem hat die Firma zugemacht, in der mein Vater arbeitete, und meine Eltern brauchten die finanzielle Unterstützung. Shizuko arbeitete sehr hart. »Ich brauche keinen Urlaub«, hat sie immer gesagt und wie verrückt geschuftet.
Am 20. März holte ich sie also bei den Eltern ab und brachte sie und meine Frau zum Bahnhof. Das war so gegen Viertel nach sieben. Meine Frau musste an dem Tag besonders früh an ihrer Arbeitsstelle sein. Anschließend lieferte ich die Kinder kurz vor halb acht im Kindergarten ab und ging dann zur Haltestelle, um nach Itabashi ins Geschäft zu fahren.
Wenn meine Frau und meine Schwester die Bahn um 7.20 genommen haben, sind sie kurz vor acht in Kasumigaseki angekommen. Der Weg durch die Gänge zu den Bahnsteigen der Marunouchi-Linie ist ziemlich weit. So hat Shizuko haargenau die Bahn mit dem Sarin erwischt. Und steigt ausgerechnet in den verseuchten Wagen. Das einzige Mal im Jahr, an dem sie mit der Marunouchi-Linie fuhr.
Am Bahnhof Nakano-Sakaue wurde sie bewusstlos, und man hat sie ins Krankenhaus eingeliefert. Der Bahnbeamte, der eine Mund-zu-Mund-Beatmung bei ihr durchgeführt hat, soll dabei ebenfalls Sarin eingeatmet haben und zusammengebrochen sein. Ich weiß nicht, wer er ist, ich bin ihm nie begegnet.
Ich habe von dem Anschlag über unsere Zentrale erfahren. Sie liegt an der Hibiya-Linie, sodass einige Kollegen dort betroffen waren und ins Krankenhaus kamen. Deshalb fragten sie bei uns nach, ob alles in Ordnung sei. Ich schaltete den Fernseher ein und sah, was los war.
Als Erstes rief ich meine Frau an, ihr war nichts passiert. Dann meine Mutter –
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