Untergrundkrieg
gelegenen Krankenhaus besuchen.
Bis zum letzten Moment war ich mir nicht sicher, ob Tatsuo mir den Besuch tatsächlich gestatten würde. Er sagte es zwar nicht, aber es fiel ihm sichtlich schwer, seine Einwilligung zu geben. Man kann sich gut vorstellen, wie taktlos es ihm im Innersten erscheinen musste, die grausamen Behinderungen seiner Schwester den Blicken eines Fremden preiszugeben. Selbst wenn es nichts dagegen einzuwenden gab, dass ich sie sah, so stieß doch der Umstand, dass danach die ganze Welt in einem Buch über Shizuko lesen könnte, bei seiner Familie bestimmt nicht gerade auf lebhafte Zustimmung. Daher empfand ich als Schriftsteller eine besonders starke Verantwortung – nicht nur gegenüber der Familie, sondern natürlich auch Shizuko gegenüber.
Doch wenn ich in meinem Buch über sie berichten wollte, musste ich Shizuko unbedingt selbst kennen lernen. Obwohl mir ihr Bruder schon ausführlich alles berichtet hatte, erschien es mir nur fair, der jungen Frau persönlich zu begegnen. Selbst wenn sie auf meine Fragen nur mit Schweigen reagieren konnte, hatte ich zumindest versucht, Shizuko zu interviewen.
Um ehrlich zu sein, ich war selbst gar nicht so überzeugt davon, dass ich über sie würde schreiben können, ohne jemanden zu verletzen.
Auch wenn ich heute, am Tag nach unserer Begegnung, an meinem Schreibtisch sitze, bin ich nicht überzeugt davon. Aber mir bleibt nichts anderes übrig, als das zu schreiben, was ich empfunden habe. Ich bete darum, dass ich mit meinen Worte niemanden verletze.
Es ist Dezember, draußen herrscht eine winterliche Atmosphäre. Der Herbst ist allmählich verklungen. Alle Blätter sind längst abgefallen, und das Jahr neigt sich dem Ende zu. Im Dezember vor einem Jahr haben wir mit den Vorbereitungen für dieses Buch begonnen. Shizuko Akashi ist eine meiner letzten Gesprächspartnerinnen. Allerdings unterscheidet sie sich von den anderen dadurch, dass sie ihre Gedanken nicht in Worte fassen kann.
Zufälligerweise wurde genau am Tag meines Besuchs Yasuo Hayashi auf der fernen Insel Ishigaki von der Polizei verhaftet. Er war der letzte der Attentäter, der sich noch auf freiem Fuß befand. Man nannte Hayashi die »Mördermaschine«, weil er am Bahnhof Akihabara in der Hibiya-Linie drei Beutel Sarin geöffnet und auf diese Weise acht Menschen getötet hatte. 8 Darüber hinaus hatte es 250 Verletzte gegeben. Ich las die Nachricht in der Abendzeitung und fuhr dann zu Shizuko ins Krankenhaus. Einem Polizeibeamten zufolge, so stand es in der Zeitung, sei Hayashi dem Druck, ständig auf der Flucht zu sein, nicht mehr gewachsen gewesen.
Die Tatsache, dass Hayashi nun gefasst war, berührte mich nur wenig. Dadurch wurde das Leid, das er so vielen zugefügt hatte, nicht rückgängig gemacht. Die Leben, die er am 20. März 1995 zerstört hatte, waren unwiederbringlich verloren. Aber vielleicht machte es doch einen Unterschied, dass er verhaftet war.
Ich kann den Namen und die Anschrift von Shizukos Krankenhaus nicht nennen. Und ich muss hinzufügen, dass die Namen Shizuko und Tatsuo Akashi Pseudonyme sind, die ich auf Wunsch der Familie verwendet habe.
Diese Vorsichtsmaßnahmen wurden getroffen, weil Sensationsreporter bereits einmal versucht hatten, sich mit Gewalt Zugang zu Shizuko zu verschaffen. Ein Schock konnte für sie einen Rückfall bedeuten, ganz zu schweigen von dem Chaos, das ein Presseansturm im Krankenhaus hervorrufen würde. Das bereitete Tatsuo besonders Sorge.
Shizuko wurde im August 1995 auf die Reha-Station dieser Klinik gebracht. Bis dahin hatte sie fünf Monate lang auf der Intensivstation eines anderen Krankenhauses gelegen, wo lebenserhaltende Maßnahmen im Vordergrund standen. Die dortigen Ärzte hatten es für ausgeschlossen gehalten, dass Shizuko jemals allein im Rollstuhl zur Treppe fahren können würde. Sie war in einem nur halb bewussten Zustand ans Bett gefesselt und nicht imstande, die Augen zu öffnen und Muskeln zu bewegen. Nach ihrer Überweisung in die Reha-Klinik hat Shizukos Genesungsprozess alle Erwartungen übertroffen. Sie ist in der Lage, in einem Rollstuhl zu sitzen, und wird anstelle eines Spaziergangs von einer Schwester durch die Station geschoben; sie kann sogar eine einfache Unterhaltung führen. Ihre Fortschritte kann man wirklich als ein Wunder bezeichnen.
Doch ihr Gedächtnis scheint sie fast völlig verloren zu haben. Leider hat sie kaum Erinnerungen an ihr Leben vor dem Anschlag. Die Ärzte sagen, sie befinde sich
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