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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Reha-Programmen teil: körperliche Regenerierung und Zurückgewinnung ihrer Sprechfähigkeit. Sie lernt, im Rollstuhl zu sitzen, auf dem rechten Bein zu stehen, die rechte Hand zu bewegen, ihr angewinkeltes Bein auszustrecken und die Vokale a, i, u, e, o zu artikulieren.
    Da sie den Mund noch nicht gut genug bewegen kann, um zu essen, wird sie künstlich durch die Nase ernährt. Ihre Halsmuskeln sind steif. Die Stimmbänder sind eigentlich in Ordnung, aber die Muskeln, die sie bewegen, sind starr.
    Der Arzt sagt, das Ziel der Therapie sei, dass sie auf eigenen Füßen das Krankenhaus verlassen kann. Ob sie es schaffen wird, hat er nicht gesagt. Aber ich habe großes Vertrauen zu diesem Arzt und auch zum Krankenhaus.
    Inzwischen gehe ich nur noch jeden zweiten Tag ins Krankenhaus, um Wäsche abzuholen und so weiter. Dann komme ich immer erst gegen elf Uhr abends nach Hause. Mein Leben ist völlig aus den Fugen geraten. Ich habe inzwischen wieder ziemlich zugenommen, wahrscheinlich weil ich immer erst kurz vor dem Schlafengehen esse.
    Dreimal in der Woche gehe ich nach der Arbeit allein ins Krankenhaus. Sonntags besuchen wir Shizuko mit der ganzen Familie. Meine Mutter kommt auch mit. Mein Vater ist wieder zu Hause, aber wenn er ausgeht, bekommt er oft Fieber, also kann er nicht mitkommen.
    Murakami: Das bedeutet, Sie tragen jetzt die ganze Verantwortung, nicht wahr?
    Natürlich, es ist ja immerhin meine Familie. Nur für meine Frau tut es mir leid. Wenn sie mich nicht geheiratet hätte, müsste sie das alles jetzt nicht mitmachen. Auch für die Kinder ist es nicht leicht. Wenn meine Schwester gesund wäre, würden wir Ausflüge machen und unser Leben genießen.
    Aber als Shizuko zum ersten Mal etwas gesagt hat, waren wir überglücklich. Es klang nur wie »Uuhh«, kaum mehr als ein Stöhnen, aber ich habe vor Freude geweint. Eine Krankenschwester, die dabei war, hat sie gelobt und mitgeweint.
    Und seltsamerweise hat Shizuko immer weiter »aah« und »uuh« gesagt und selbst angefangen zu weinen. Natürlich habe ich keine Ahnung, was ihre Tränen bedeuten. Dem Arzt zufolge werden die Gefühle aus dem Kopf »herausgeweint«, wenn sie das erste Mal nach außen dringen. Das sei der allererste Schritt.
    Am 23. Juli sagte sie das erste Wort vor meinen Eltern: »Mama!« Da meine Eltern zum ersten Mal seit vier Monaten die Stimme ihrer Tochter hörten, mussten sie auch weinen.
    Inzwischen kann sie sogar lachen. Sie lächelt auch. Es sind einfache Scherze, mit denen man sie zum Lachen bringen kann – wenn ich Furzgeräusche mit dem Mund mache und so. Dann frage ich: »Wer hat hier gefurzt?« Und sie sagt »Tatsuo«. So weit sind wir mittlerweile. Sie kann den Mund immer noch nicht gut bewegen, und man muss sich große Mühe geben, sie zu verstehen. Aber die Hauptsache ist, sie kann überhaupt etwas sagen.
    Wenn ich sie frage, was sie machen möchte, antwortet sie: »Spazierengehen.« Immerhin hat sie einen Willen. Sie sieht noch sehr schlecht. Anscheinend kann sie nur mit dem rechten Auge ein wenig sehen.
    Am Abend vor dem Anschlag haben wir noch alle zusammen gegessen und gesagt: »Was haben wir doch für ein Glück. Die ganze Familie sitzt beisammen und fühlt sich wohl …« Ein so bescheidenes Glück, das diese Kerle schon am nächsten Tag zerstört haben … Sie haben uns unser bisschen Freude gestohlen.
    Unmittelbar nach dem Anschlag war ich fast wahnsinnig vor Wut. Ich tigerte im Krankenhaus durch die Gänge und schlug mit der Faust gegen die Wände und die Pfeiler. Damals wusste ich noch nicht, dass es diese Verrückten von Aum waren, aber egal wer es war, ich hätte ihnen den Schädel einschlagen können. Ich habe es selbst nicht gemerkt, aber noch einige Tage danach waren meine Hände wund. »Was habe ich denn mit meinen Händen gemacht?« habe ich meine Frau gefragt. »Das kommt, weil du überall dagegen geschlagen hast«, hat sie gesagt. So verzweifelt und wütend war ich.
    Aber jetzt, nach fast zwei Jahren, geht es wieder aufwärts. Das haben wir nicht zuletzt allen in der Firma meiner Schwester, meinen Kollegen, meinem Chef, den Ärzten und Krankenschwestern zu verdanken. Sie alle haben uns so sehr geholfen.

»Disneyland«
Shizuko Akashi (31)
    Am 2. Dezember 1996 hatte ich mit Shizuko Akashis älterem Bruder Tatsuo über das gesprochen, was vor und nach dem Sarin-Anschlag geschehen war, bei dem Shizuko so schwere Verletzungen erlitten hatte. Am folgenden Abend beabsichtigte ich, sie in ihrem etwas außerhalb

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