Untergrundkrieg
Farbe der Blumen nicht sehen kann. Sie braucht sehr helles Sonnenlicht, um Dinge zu erkennen.
»Aaee«, sagt Shizuko – unverständlich für mich – und bewegt den Kopf ein bisschen. Aber die gelben Blumen auf dem Tisch verströmen Wärme im Krankenzimmer, und ich hoffe, dass wenigstens ein bisschen davon auf Shizuko abstrahlt.
Über ihrem Pyjama trägt Shizuko einen hochgeschlossenen rosa Morgenmantel, und auf ihrem Schoß liegt eine Decke. Um die Schultern hängt ein Schal, aus dem ihr rechter Arm ein wenig verkrampft hervorschaut. Tatsuo, der neben ihr steht, ergreift die Hand von Zeit zu Zeit und streichelt sie liebevoll. Ihre Hand dient Shizuko als wichtiges Kommunikationsmittel, wenn die Worte versagen.
Vom langen Liegen ist ihr Haar am Hinterkopf ein wenig dünn.
»Bisher hast du ja meist kürzere Worte benutzt«, sagt Tatsuo lächelnd zu ihr. »Das war für uns immer sehr leicht zu verstehen, aber mittlerweile kannst du längere Sätze sagen. Die sind für uns zwar manchmal ein bisschen schwierig zu verstehen. Das heißt, du machst Fortschritte, aber dein Mund kommt noch nicht so ganz mit.«
Ich kann kaum die Hälfte von dem verstehen, was sie sagt. Tatsuo versteht natürlich viel mehr. Und die Krankenschwester noch mehr.
»Die Schwestern hier sind fast alle jung, sehr engagiert und freundlich. Wir sind ihnen zu größtem Dank verpflichtet«, sagt Tatsuo. »Stimmt’s, Shizuko, sie sind sehr lieb.«
»Feeaa ieb«, sagt Shizuko.
»Shizuko wird manchmal sauer, wenn ich nicht gleich verstehe, was sie sagt. Dann darf ich nicht heimgehen, bis ich sie verstanden habe. Wie letztes Mal. Stimmt’s, Shizuko?«
Verlegenes Schweigen …
»Warum bist du denn so verlegen?« neckt Tatsuo sie wieder und lacht. »Das hast du doch selbst gesagt, oder nicht? Ich darf nicht gehen, bevor ich nicht alles verstanden habe.«
Endlich lächelt Shizuko auch. Wenn sie lächelt, leuchtet sie richtig auf. Ihr Lächeln wirkt strahlender als das anderer Menschen, aber das hat vielleicht damit zu tun, dass sie die Bewegungen ihrer Gesichtsmuskeln nicht so unter Kontrolle hat. Dennoch vermute ich, dass Shizuko schon immer so gelächelt hat – es passt so gut zu ihrem Gesicht. Mir kommt der Gedanke, dass ihr Bruder sie schon vor langer Zeit, als sie noch Kinder waren, auf diese Weise geneckt haben mag und dass Shizuko dabei ebenso gestrahlt hat.
»Übrigens hat Shizuko noch vor kurzem geweint und gejammert, wenn ich gehen musste«, erzählt Tatsuo. »Jedes Mal musste ich ihr dasselbe erklären, bis sie mit der Zeit aufgehört hat, sich zu beschweren: Ich muss nach Hause, sonst warten die Kinder und werden ganz traurig. Du bist nicht die Einzige, die allein ist; die Kleinen brauchen mich auch. Inzwischen versteht sie das. Das ist ein großer Fortschritt. Obwohl sie sich bestimmt sehr einsam fühlt, wenn ich sie hier ganz allein zurücklasse.«
Schweigen.
»Deswegen würde ich auch gern öfter ins Krankenhaus kommen und länger mit ihr reden«, sagt Tatsuo. Obwohl es für ihn wahrhaftig schon nicht einfach ist, sie jeden zweiten Tag zu besuchen. Von seiner Firma aus braucht er bis dorthin fünfzig Minuten.
Nach der Arbeit fährt er in die Klinik, unterhält sich eine Stunde mit seiner Schwester und füttert sie mit Erdbeerjoghurt. Er macht Sprechübungen mit ihr und versucht, ihre verlorenen Erinnerungen an die Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken. »Da und da waren wir doch zusammen … Das und das haben wir gemacht …«
»Es ist besonders schwer zu akzeptieren, dass unsere gemeinsamen Familienerinnerungen wie gekappt und anscheinend ganz verschwunden sind. Eigentlich ist das für mich fast das Schwerste«, sagt Tatsuo. »Manchmal, wenn ich ihr von früher erzähle, fängt meine Stimme unwillkürlich an zu zittern. Dann fragt sie mich: ›Bruder gut?‹
Die Besuchszeit im Krankenhaus dauert bis acht Uhr abends, aber bei Tatsuo wird schon mal ein Auge zugedrückt. Nach seinem Besuch nimmt er Shizukos Wäsche und fährt mit dem Wagen zurück zu seiner Firma. Von dort geht er fünf Minuten zu Fuß zur U-Bahn-Station. Die Fahrt nach Hause dauert eine Stunde, er muss dreimal umsteigen. Bis er ankommt, sind die Kinder schon im Bett. Dass er so wenig Zeit für sie hat, belastet den Familienmenschen Tatsuo sehr. Dieses anstrengende Leben führt er seit einem Jahr und acht Monaten. Es wäre gelogen, wenn er behauptete, er wäre nicht erschöpft. Wie lange er noch so weitermachen kann, weiß niemand.
Auf der Rückfahrt im
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