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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Auto sagt Tatsuo: »Wenn es ein gewöhnlicher Unfall gewesen wäre, könnte ich mich leichter damit abfinden. Es gäbe dann eine Ursache oder so etwas wie einen Grund. Aber wenn ich an dieses vollkommen sinnlose, idiotische Verbrechen denke, werde ich einfach nicht damit fertig. Ich kann es nicht ertragen!« Er schüttelt heftig den Kopf, und wir schweigen eine Zeit lang.
    »Können Sie mir zeigen, wie Sie Ihre rechte Hand bewegen?« bitte ich Shizuko, und sie bewegt die Finger ihrer rechten Hand. Sie gibt sich Mühe, aber die Finger bewegen sich sehr langsam. Ganz langsam öffnet sie sie, und ganz langsam schließt sie sie wieder.
    »Würde es Ihnen etwas ausmachen, meine Hand zu halten?«
    »Gut«, sagt Shizuko.
    Ich lege vier Finger in ihre kleine Handfläche – sie hat Hände wie ein Kind –, und die Finger ihrer Hand schließen sich so zart wie die Blütenblätter einer schlafenden Blume. Es sind die warmen, weichen Finger einer jungen Frau. Und sie sind viel kräftiger, als ich es erwartet hatte. Sie umklammert meine Hand wie ein Kind, das zum Einkaufen geschickt wurde, sein Geld. Ich spüre ihren starken Willen. Sie ist eindeutig auf der Suche nach etwas, das aber nichts mit mir zu tun hat, über meine Person hinausgeht. Aber diese Suche dreht sich mehrmals im Kreis und kehrt dann zu mir zurück. Entschuldigen Sie diese unverständliche Erklärung, aber das war mein spontaner Eindruck.
    Ich hatte das sichere Gefühl, dass etwas in ihrem Kopf nach draußen zu gelangen versucht. Etwas Wichtiges. Aber es gelingt ihr nicht, es freizulassen. Sie hat – vielleicht nur vorläufig – die Kraft verloren, es an die Oberfläche zu bringen. Und doch existiert dieses Etwas eingeschlossen, aber unversehrt in den Mauern ihres Inneren. Aber ihre Hand teilt mir mit, dass es existiert.
    Sie hält meine Hand sehr lange. Als ich »danke« sage, öffnet sie langsam einen Finger nach dem anderen.
    »Die Worte ›tut weh‹ oder ›müde‹ werden Sie von meiner Schwester nie hören«, erzählt mir Tatsuo auf der Heimfahrt. »Seit einem Jahr und drei Monaten macht sie jeden Tag Therapie. Sie trainiert ihre Arme und Beine, unterzieht sich Sprechübungen und allen möglichen Behandlungen bei verschiedenen Spezialisten. Nichts davon ist leicht. Im Gegenteil, alles ist sehr anstrengend, und die Ärzte und Schwestern fragen sie oft, ob sie müde sei. Aber in der ganzen Zeit hat sie das nur dreimal bejaht. Mehr nicht. – Deshalb hat sie auch so große Fortschritte gemacht, das sagen alle, die mit ihr zu tun haben. Sie war bewusstlos, war lange an ein Beatmungsgerät angeschlossen, konnte den Mund nicht öffnen. Viele Mediziner hielten eine Besserung für ausgeschlossen. Und jetzt kann sie sprechen – das ist doch wie ein Wunder.«
    »Was haben Sie vor, wenn Sie wieder gesund werden?« frage ich sie.
    »Ei-fen«, sagt sie. Ich verstehe nicht.
    »Reisen, oder?« fragt Tatsuo nach kurzem Überlegen …
    »Ja«, sagt Shizuko und nickt.
    »Und wohin möchten Sie fahren?« frage ich.
    »Iinian.« Das versteht niemand von uns, aber nach ein bisschen Hin und Her wird klar, dass sie Disneyland meint.
    »Disneyland?« fragt Tatsuo.
    »Ja«, sagt Shizuko und nickt diesmal heftiger.
    Es ist gar nicht so leicht, Reisen und Disneyland miteinander in Verbindung zu bringen. Wir (die wir in Tokyo leben) kämen nicht auf die Idee, einen Ausflug ins Disneyland als Reise zu bezeichnen, aber für Shizuko ist Disneyland so weit entfernt wie für unsereinen Grönland. Ein Ausflug nach Disneyland wäre für sie schwieriger als für uns eine Reise ans Ende der Welt.
    Tatsuos Kinder (acht und vier) können sich noch erinnern, wie sie mit ihrer Tante im Disneyland waren, und wenn sie Shizuko im Krankenhaus besuchen, erzählen sie ihr, wie lustig das damals war. So hat sich Disneyland in Shizukos Denken als ein Symbol für »Freiheit und Gesundheit« festgesetzt. Natürlich weiß niemand, ob Shizuko sich wirklich erinnert, dort gewesen zu sein. Es könnte eine ihr nachträglich eingepflanzte Erinnerung sein. Schließlich erinnert sie sich nicht einmal mehr an ihr eigenes Zimmer, in dem sie so lange gelebt hat.
    Doch Disneyland ist, ob nun eine echte oder imaginierte Erinnerung, ein bedeutsamer Ort in Shizukos Bewusstsein. Ich kann das ahnen, aber was sie sich wirklich darunter vorstellt, kann niemand wissen.
    »Möchten Sie mit der ganzen Familie nach Disneyland fahren?« frage ich sie.
    »Ja«, sagt Shizuko.
    »Mit Ihrem Bruder, Ihrer Schwägerin und den

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