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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nahmen uns eine Woche Urlaub. Am Mittwoch, dem 22. März, erklärte uns der Arzt endlich, wie es um meine Schwester stand. Ihr Blutdruck und ihre Atmung hätten sich inzwischen bis zu einem gewissen Grad stabilisiert, ihre Gehirnfunktionen müssten noch weiter untersucht werden. »Auch wenn ihr Zustand jetzt einigermaßen stabil ist, können wir noch für nichts garantieren«, sagte er.
    Die Auswirkungen von Sarin wurden uns nicht erklärt. Man zeigte uns nur eine Röntgenaufnahme ihres Gehirns. Es sei »geschwollen«. Tatsächlich wirkte es, verglichen mit der Aufnahme eines normalen Gehirns, ziemlich aufgebläht. Ob das vom Sarin oder von längerer Unterversorgung mit Sauerstoff herrührte, wusste man noch nicht.
    Sie musste immer noch künstlich beatmet werden, da sie es aus eigener Kraft nicht schaffte. Das konnte aber nicht für immer so weitergehen, und am 29. März wurde ein Schnitt an ihrer Kehle vorgenommen, damit ihr ein Atemventil eingesetzt werden konnte. Das hat sie jetzt noch.
    Als Shizuko in Shinjuku im Krankenhaus war, habe ich sie jeden Tag nach der Arbeit pünktlich um sieben besucht. Mein Chef hat mich immer von einem Kollegen hinfahren lassen. Ich habe damals sehr stark abgenommen, aber ich habe fünf Monate durchgehalten, bis sie am 23. August in ein anderes Krankenhaus verlegt wurde.
    Ich habe mir notiert, dass sie am 24. März zum ersten Mal die Augen bewegt hat. Sie hatte sie nicht weit aufgemacht, sondern hinter halb geschlossenen Lidern die Augäpfel gerollt, als ich sie ansprach.
    Murakami: Das war doch ein Fortschritt, nicht wahr?
    Ja, das fand ich auch, aber der Arzt hat behauptet, sie könne nichts wahrnehmen. Es sei nur ein Zufall gewesen. Er hat mich davor gewarnt, mir allzu große Hoffnungen zu machen. »Laut einer Statistik, die auf einer Untersuchung von Gehirnschäden beruht, die durch Quetschungen und Blutungen infolge von Verkehrsunfällen aufgetreten sind, ist keine weitere Besserung ihres Zustands zu erwarten«, eröffnete man uns am 1. April. Das hieß, sie würde für den Rest ihres Lebens kaum bei Bewusstsein sein, nicht sitzen und nicht sprechen können. Also für immer ein Pflegefall bleiben.
    Das war natürlich ein Schock. »Besser, Shizuko wäre tot«, hat meine Mutter damals gesagt. »Sie hätte sich selbst und euch so etwas nie angetan.«
    Eigentlich dachte ich genauso und konnte meine Mutter sehr gut verstehen, aber wie ich sie trösten sollte, wusste ich nicht. »Wenn Shizukos Leben wertlos wäre, hätte Gott sie bestimmt getötet«, sagte ich. »Aber sie lebt, und es gibt vielleicht doch noch eine Möglichkeit, dass sie gesund wird. Wir müssen nur fest genug daran glauben, Mutter.« Da fing meine Mutter an, furchtbar zu weinen.
    Das war für mich das Schlimmste. Es war schon grausam, dass meine Schwester verunglückt war. Aber dass jetzt meine Eltern sagten, es wäre besser, sie wäre tot, konnte ich kaum ertragen … Das war zehn Tage nach dem Anschlag.
    Nicht lange danach ist mein Vater zusammengebrochen. Am 6. Mai wurde bei ihm Krebs diagnostiziert, und er musste im Kashiwa-Krebszentrum operiert werden. Ich pendelte täglich zwischen den beiden Krankenhäusern hin und her. Meiner Mutter ging es auch nicht gerade gut. Es war eine grausame Zeit für uns alle, auch für die Kinder.
    Im August wurde Shizuko in ein Krankenhaus in West-Shinjuku verlegt. Dort gab es einen jungen Arzt, der sich sehr für Reha-Therapien engagierte. Inzwischen ist Shizuko so weit, dass sie die rechte Hand bewegen kann. Ganz allmählich lernt sie, sich ein bisschen zu bewegen. Wenn man sie fragt: »Wo ist dein Mund?« führt sie die rechte Hand zum Mund.
    Es ist immer noch nicht leicht für sie, selbst zu sprechen, aber anscheinend versteht sie eine ganze Menge von dem, was wir sagen. Der Arzt bezweifelt zwar, dass sie ihre Beziehung zu den einzelnen Familienmitgliedern (Vater, Mutter, Bruder, Schwägerin, Neffe und Nichte) genau begreift. Ich sagte zwar immer zu ihr »Hallo, dein Bruder ist da«, aber ob sie weiß, was ein Bruder ist, ist nicht sicher. Sie hat ja auch fast völlig das Gedächtnis verloren.
    Wenn ich sie frage, wo sie bisher gewohnt hat, antwortet sie nur »ich weiß nicht«. Am Anfang beantwortete sie alle Fragen – nach den Namen unserer Eltern, ihrem eigenen Alter, der Anzahl der Geschwister, ihrem Geburtsort – mit »ich weiß nicht«. Sie wusste nur ihren eigenen Namen. Doch allmählich kehren ihre Fähigkeiten zurück. Im Moment nimmt sie an zwei

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