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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Bahnbeamter, sondern eine Aushilfe, so ein Junge im Anorak. Morgens setzen sie oft Studenten als Aushilfen ein, die statt der normalen grünen Uniform solche Anoraks von der Bahn tragen. In der Ecke neben dem rechten Sitz lag ein in Zeitungspapier eingewickeltes Paket von etwa dreißig Zentimetern Durchmesser. Ungefähr so groß ( zeigt mit der Hand ). Direkt vor mir. Ich habe noch überlegt, was es wohl sein könnte. Aber der Stationsgehilfe hat die Fahrgäste in die Bahn gelassen, ohne Notiz davon zu nehmen. Bestimmt hat er es gesehen, nur keine Lust gehabt, sich darum zu kümmern. Hätte er es gleich entfernt, hätte es viel weniger Verletzte gegeben. Das war wirklich eine verpasste Gelegenheit.
    Jedenfalls fuhr der Zug mitsamt dem Paket los. Ich habe noch Glück gehabt, dass ich mich nicht neben das Sarin gesetzt habe, sondern ein Stückchen weiter links, sodass ich nicht direkt in der Richtung saß, in die der Fahrtwind das Giftgas wehte. Nach zwei, drei Minuten fuhr der Zug ab.
    Als sich jemand übergeben musste, vermutete ich sofort, dass das mit dem Päckchen an der Tür zu tun hatte. Das Zeitungspapier und der Boden rundherum waren klatschnass. Wie man es auch dreht und wendet, der Stationsgehilfe, der das Paket gesehen, aber nicht entfernt hat, war ein Dummkopf. Bald fing es an zu riechen. Ich habe gehört, Sarin sei geruchlos, aber das kann nicht stimmen. Es roch irgendwie süßlich. So ähnlich wie Parfüm, nicht mal besonders unangenehm. Wenn es richtig gestunken hätte, wären wahrscheinlich alle in Panik geraten. Aber es roch, wie gesagt, nur süßlich.
    Dann kamen die Haltestellen Shin-Otsuka, Myogadani, Korakuen. In Myogadani begannen viele Fahrgäste zu husten, sitzende und stehende. Ich natürlich auch. Alle holten ihre Taschentücher raus, um sie sich auf Mund und Nase zu drücken. Das war schon eine komische Szene. Der ganze Wagen hustete. Soweit ich mich erinnere, verließen ab Korakuen die meisten Leute die Bahn, weil ihnen das alles zu unheimlich wurde. Inzwischen hatten alle wie auf Kommando die Fenster geöffnet. Augenbrennen, Husten, Übelkeit … Obwohl ich mich nun ernsthaft fragte, was nur los sei, las ich weiter meine Zeitung, eine langjährige, liebe Gewohnheit von mir.
    Als die Bahn in Hongo-Sanchome hielt, stiegen fünf oder sechs Bahnbeamte zu. Anscheinend wussten sie Bescheid. Einer hob das Paket mit bloßen Händen auf. Inzwischen war das Sarin über den Boden gelaufen, aber sie entfernten nur das Paket und wischten kurz über die Stelle. Dann fuhr die Bahn auch schon wieder weiter. In Ochanomizu stiegen noch mal fünf oder sechs Bahnbeamte ein und putzten den Boden.
    Mittlerweile hustete ich ununterbrochen und konnte meine Zeitung kaum noch lesen. »Ist ja nicht mehr weit bis Ginza«, sprach ich mir selber Mut zu. Ich konnte die Augen überhaupt nicht mehr offen halten. Auf der Höhe von Awajicho wurde mir klar, dass es etwas Schlimmes sein musste. Trotzdem blieb ich mit geschlossenen Augen bis Ginza auf meinem Platz sitzen. Ich hatte keine starken Kopfschmerzen und musste mich auch nicht übergeben, aber ich war ganz benebelt.
    Als ich in Ginza die Augen öffnete, war alles um mich herum dunkel, wie in einem Kino. Beim Aussteigen wurde mir schwindlig, aber ich schaffte es die Treppe rauf, indem ich mich quasi am Geländer hochzog, aber dabei brach ich fast zusammen.
    Normalerweise wäre ich anschließend in die Hibiya-Linie umgestiegen, aber über Lautsprecher wurde angekündigt, die fahre wegen irgendeines Unfalls nicht. Also war da auch etwas passiert. Es lag jedenfalls nicht nur an mir.
    Eins will ich Ihnen sagen: Wenn ich starke Schmerzen oder Brechreiz empfunden oder nichts mehr gesehen hätte, wäre ich natürlich sofort ausgestiegen. Aber so war es nicht. Das Unwohlsein breitete sich ganz langsam in meinem Körper aus, und als ich in Ginza ankam, war ich in einem grauenhaften Zustand. Ich bin noch nie ernsthaft krank gewesen und war auch noch nie im Krankenhaus. Ich war immer bei guter Gesundheit. Vielleicht habe ich deshalb so lange ausgehalten.
    Ich stieg aus, und der Zug fuhr weiter, obwohl sie ihn schon in Hongo-Sanchome oder Ochanomizu hätten anhalten sollen. Die Fahrgäste waren derart in Panik, dass man etwas hätte merken müssen. Schon eine halbe Stunde, bevor ich eingestiegen war, herrschte am Bahnhof Kasumigaseki Chaos. Sie wussten, dass etwas Schlimmes passiert war, und hätten den Zug anhalten und die Fahrgäste in Sicherheit bringen müssen. So hätte man

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