Untergrundkrieg
Kindern?«
Sie nickt.
Tatsuo wirft mir einen Blick zu. »Wenn sie wieder normal essen kann, ohne den Schlauch durch die Nase, dann können wir vielleicht alle zusammen wieder mal nach Disneyland fahren.« Er drückt ganz sanft ihre Hand.
»Ich hoffe, das wird bald sein«, sage ich zu Shizuko.
Wieder nickt sie. Ihre Augen blicken in meine Richtung, aber sie sieht »etwas anderes«, jenseits von mir.
»Und mit was willst du fahren, wenn wir in Disneyland sind?« fragt Tatsuo sie.
»Achterbahn vielleicht?« souffliere ich.
»Nein, Space Mountain!« fällt Tatsuo ein. »Das hat ihr immer besonders gefallen.«
Vor meinem Besuch im Krankenhaus hatte ich mir gewünscht, dass ich sie irgendwie ermutigen könnte, aber mir war nichts eingefallen. Jetzt war es sogar umgekehrt gekommen, und ich brauchte überhaupt nicht mehr darüber nachzudenken. Denn am Ende war sie diejenige, die mich ermutigt hat.
Während der Arbeit an diesem Buch habe ich viel über die Frage nach dem Sinn des Lebens nachgedacht. Was bedeutet es zu leben? Hätte ich an Shizukos Stelle die gleiche Willenskraft wie sie, mein Leben anzunehmen? Hätte ich den Mut, die Ausdauer und die Entschlossenheit? Könnte ich die Hand eines anderen Menschen mit solcher Wärme und Kraft umschließen? Würde die Liebe der anderen mich retten? Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt, ich bin mir gar nicht so sicher.
Menschen auf der ganzen Welt suchen Erlösung in Religionen. Aber wenn eine Religion verletzt und schadet, wo sollen sie dann Erlösung finden? Als ich mit Shizuko sprach, habe ich von Zeit zu Zeit versucht, ihr in die Augen zu schauen. Was sah sie? Was ließ diese Augen aufleuchten? Wenn sie jemals wieder ungehindert sprechen kann, möchte ich sie unbedingt fragen: »Was haben Sie an dem Tag gesehen, an dem ich Sie besucht habe?«
Aber dieser Tag ist noch in weiter Ferne. Davor kommt noch die Reise nach Disneyland.
MARUNOUCHI-LINIE (Richtung Ikebukuro und zurück)
Zugnummer B 701 / A 801 / B 901
Das Team, das für die Marunouchi-Linie in Richtung Ikebukuro zuständig war, bestand aus Masato Yokoyama und Kiyotaka Tonozaki. Yokoyama war der Akteur, Tonozaki sein Gehilfe.
Yokoyama wurde 1963 in der Präfektur Kanazawa geboren und war zur Zeit des Anschlags einunddreißig. Er hatte angewandte Physik an der Tokai-Universität studiert und nach dem Examen bei einem Elektronikhersteller angefangen, seine Stelle jedoch bereits nach drei Jahren gekündigt, um der Welt zu entsagen. Von den fünf Tätern hinterlässt Yokoyama aus irgendeinem Grund den flüchtigsten Eindruck. Über ihn sind keine charakteristischen Episoden bekannt, und in den Aussagen der anderen Sektenmitglieder taucht sein Name kaum auf. Vermutlich ist er selbst von Natur aus auch kein besonders gesprächiger Mensch. Er war eine Art Staatssekretär im Ministerium für Wissenschaft und Technik. Zusammen mit Hirose arbeitete er an dem Geheimprojekt der »Automatischen Laserwaffe«. 1995 brachten die beiden Asahara als »Neujahrsopfer« ein selbst gefertigtes Gewehr dar. Yokoyama hat bis jetzt (Januar 1997) jede Aussage hinsichtlich des Sarin-Anschlags verweigert.
Tonozaki ist ein ähnlich unauffälliger Mann. 1964 wurde er in Aomori geboren. Nach der Schule übte er verschiedene Tätigkeiten aus und trat 1987 der Aum-Sekte bei. Er gehörte dem Bauministerium an.
Tonozaki, der den Wagen nach Shinjuku fuhr, hielt unterwegs an, und Yokoyama kaufte eine Ausgabe der Zeitung Nihon Keizai Shimbun und wickelte die beiden Beutel mit Sarin darin ein. Tonozaki hatte ursprünglich eine Sportzeitung besorgt, aber Yokoyama plädierte für eine Zeitung von allgemeinerem Interesse. Bevor er den Wagen verließ, stülpte sich Yokoyama eine Perücke über und setzte eine falsche Brille auf.
Um 7.39 stieg er in den fünften Wagen des Zuges B 701 der Marunouchi-Linie in Richtung Ikebukuro. Als der Zug in den Bahnhof Yotsuya einlief, stach er mehrere Male mit der geschärften Spitze seines Schirms in die in Zeitungspapier gewickelten Sarin-Beutel, die er auf dem Boden des Waggons platziert hatte. Dabei gelang es ihm lediglich, einen der Beutel zu durchstechen. Der zweite blieb unversehrt. Wären beide Beutel geöffnet worden, hätte es natürlich erheblich mehr Opfer in diesem Zug gegeben.
Yokoyama stieg in Yotsuya aus und wusch die Spitze seines Schirms in einer Toilette in der Nähe des Ausgangs ab. Dann stieg er zu Tonozaki in den Wagen, der schon draußen wartete.
Um 8.30 kam der Zug in Ikebukuro an und fuhr
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