Untergrundkrieg
unseres Gesprächs beeindruckten mich ihre kühle Distanz und rationale Sichtweise sowie ihre ausgezeichnete Beobachtungsgabe, die sie zweifellos zu einer überaus tüchtigen Sprachlehrerin machen.
Sie verabscheut die Ideen der Aum-Sekte, die sich so fundamental von ihrer eigenen Weltanschauung unterscheiden. »Angst habe ich nicht gerade« , sagt sie selbst. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass es noch eine Weile dauern wird, bis sie sich wieder sicher fühlt.
Im März zum Zeitpunkt des Sarin-Anschlags hatte ich gerade unheimlich viel zu tun. Ich gab an vier bis fünf Tagen in der Woche bis zu zehn Stunden Unterricht. Auf dem Weg zu einer dieser Stunden geriet ich in den Anschlag.
Der Schüler, zu dem ich unterwegs war, arbeitete in einer Firma in Otemachi, und ich wollte mit der Marunouchi-Linie zu ihm fahren. Mein Unterricht sollte um neun Uhr beginnen. Das ist zwar recht früh, aber viele nehmen ihren Unterricht lieber vor der Arbeit. Manchmal fangen wir sogar schon um acht oder halb acht an. Natürlich haben einige auch nach der Arbeit Unterricht.
Wie immer verließ ich um acht Uhr morgens das Haus und stieg in Ikebukuro in die U-Bahn um 8.32. Auf diese Weise komme ich pünktlich um neun zum Unterricht. In Otemachi steige ich aus, gehe die Treppe hoch und bin da.
Da in Ikebukuro die Marunouchi-Endhaltestelle ist, kann die Bahn auf jedem der beiden Gleise stehen. An dem Tag stand sie auf dem linken und war schon ziemlich voll. Auf der rechten Seite stellten sich schon Leute für die nächste Bahn an, und da ich genügend Zeit hatte, beschloss ich, auch noch zu warten, denn ich war etwas müde und hätte gern einen Sitzplatz gehabt. Die Bahnen fahren in einem Abstand von zwei, drei Minuten.
Als der Zug kam, stieg ich durch die erste Tür des zweiten Wagens ein und setzte mich auf die rechte Seite. Der Zug fuhr in Richtung Shin-Otsuka ab. In Japan geht es morgens in der U-Bahn ja recht ruhig zu, kaum jemand unterhält sich. Doch die Stille wurde andauernd von Gehuste durchbrochen. Ich dachte noch, dass aber wirklich auch jeder erkältet sei.
Wie Sie wissen, fährt die Marunouchi-Linie hinter Shin-Otsuka ein paar Haltestellen überirdisch – Myogadani, Korakuen. In Myogadani steigen sonst nicht viele Leute aus, aber an dem Tag verließen so viele den Zug, dass ich mich wunderte, mir aber weiter keine Gedanken machte.
Das Gehuste nahm kein Ende. In der Bahn herrschte ungewöhnlich grelles Licht oder zumindest das, was ich dafür hielt. Im Nachhinein finde ich, dass es eher gelblich war. Oder ein Gelb, das allmählich immer blasser wurde. Ich bin früher einmal wegen einer Anämie ohnmächtig geworden, so ähnlich war es. Vielleicht kann man das nur nachvollziehen, wenn man es erlebt hat.
Allmählich fiel es mir immer schwerer zu atmen. Der Waggon war neu, und ich vermutete, der Geruch käme vielleicht von den neuen Materialien und den Klebern. Also drehte ich mich um und öffnete ein Fenster. Weil es ein neuer Zugtyp war, ging das ganz leicht, aber ich war die Einzige, die das tat. Also wartete ich einen Moment und machte dann noch eins auf.
Meine Atemwege waren schon immer empfindlich. Bei Erkältungen bekomme ich meist fürchterliche Halsschmerzen und schlimmen Husten. Vielleicht kann ich deshalb die Dämpfe von neuem Kunststoff so schlecht vertragen. Obwohl es erst März war und draußen nicht gerade warm, musste ich die Fenster öffnen. Ich verstand gar nicht, wie die anderen Fahrgäste diesen sonderbaren Geruch ertrugen. Obwohl sonderbar vielleicht nicht das richtige Wort ist …
Es war auch kein durchdringender Geruch. Wie soll ich sagen? Es war mehr ein Gefühl als ein Geruch – Atemnot im wahrsten Sinne des Wortes. Ich öffnete die Fenster, um etwas Durchzug zu machen. Ich glaube, das war zwischen Myogadani und Korakuen. An beiden Stationen stiegen eine Menge Leute aus. Aber niemand reagierte, als ich mich umwandte und zwei Fenster öffnete.
Murakami: Es machte also niemand eine Bemerkung über die schlechte Luft oder wunderte sich? Obwohl es doch alle hätten merken müssen?
Niemand sagte etwas. Keine Reaktion, keinerlei Kommunikation. Ich habe etwa ein Jahr in Amerika gelebt. Wenn das Gleiche in Amerika passiert wäre, hätte es einen Riesenaufruhr gegeben. Alle hätten gerätselt und gemeinsam nach der Ursache gefahndet. Als mich die Polizei später befragte, ob denn keine Panik ausgebrochen sei, fiel mir ein, dass alle ganz ruhig geblieben waren und niemand ein Wort gesprochen
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