Untergrundkrieg
hatte.
Durch das Zugfenster sah ich, wie die Ausgestiegenen hustend auf dem Bahnsteig standen.
Hinter Korakuen fiel mir das Atmen immer schwerer, und der gelbliche Farbton vertiefte sich. Ob ich es überhaupt bis zur Arbeit schaffen würde? Zumindest wollte ich es versuchen und zwar in der Bahn bleiben, aber in Hongo-Sanchome in einen anderen Wagen umsteigen. Inzwischen war es im Wagen schon ziemlich leer, und hier und es gab freie Plätze, was äußerst ungewöhnlich ist. Morgens um diese Zeit ist es normalerweise brechend voll.
Ich wollte durch die mittlere oder hintere Tür aussteigen. Inzwischen hielt ich es nicht mehr aus. Ich sah, wie ein Mann in Polizeiuniform und mit weißen Handschuhen eine Tür vor mir einstieg, ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket mit beiden Händen aufhob und nach draußen trug. Ein Stationsvorsteher brachte einen viereckigen Plastikbehälter, und sie legten das Paket hinein. Zwei oder drei andere Bahnbeamte rannten hin und her. Das ereignete sich, während ich aus der Bahn ausstieg. Das Bild, wie der Polizist mit den weißen Handschuhen das in Zeitungspapier gewickelte Paket aufhebt, hat sich mir stark eingeprägt.
Der Zug hielt ziemlich lange, und ich ging zwei Wagen zurück und stieg wieder ein. Auch dieser Wagen war fast leer, man konnte die Fahrgäste zählen. Ich fühlte mich schon sehr schlecht. Meine Augen zuckten krampfartig, obwohl ich keine Schmerzen hatte. Um mich herum sah alles gelb und verschwommen aus.
Ich beschloss, in Awajicho auszusteigen. Nur drei Leute stiegen aus: eine etwa zwanzigjährige Frau, ein fünfzigjähriger Mann und ich. Seltsamerweise wurde mir plötzlich klar: »Das ist Sarin.« Meine Pupillen waren verengt. Es gehört zu meinem Beruf, dass ich täglich Zeitung lese und die Nachrichten sehe. Daher wusste ich über den Sarin-Anschlag in Matsumoto Bescheid. Damals bin ich auf den Begriff »Verengung der Pupillen« gestoßen. 10
Murakami: Aber Sie waren sehr gefasst, nicht wahr?
Ja, seltsamerweise war ich ganz ruhig. »Das ist Sarin«, dachte ich. Angesichts dieser gefährlichen Situation, deren Ursache ich nicht einschätzen konnte, habe ich wohl all diese Kenntnisse mobilisiert.
Auf dem Bahnsteig waren nur wir drei – die junge Frau, der Mann und ich. Unfassbar für einen Bahnsteig der Marunouchi-Linie um diese Uhrzeit. Die Frau setzte sich auf eine Bank und presste sich ein Taschentuch gegen den Mund, als sei ihr schlecht. Der Mann lief hin und her, wobei er wiederholte: »Da stimmt was nicht, da stimmt was nicht.« Und dann: »Ich kann nichts mehr sehen, ich bin blind.« (Später habe ich gehört, er habe sich bald gar nicht mehr bewegen können, aber das weiß ich nicht sicher.)
»Hier stimmt wirklich etwas nicht. Wir müssen ins Krankenhaus.« Ich fasste die Frau unter, und wir machten uns zu dritt auf den Weg zum Stationsbüro. Der Stationsvorsteher war zwar ziemlich konfus, machte aber immerhin den Versuch, einen Krankenwagen zu rufen. Leider hob unter der Notrufnummer niemand ab. Da bekam ich zum ersten Mal Angst. Alles, worauf ich bisher vertraut hatte, schien nicht mehr zu gelten.
Nun herrschte Chaos. Allerdings war unser Zug später dran als die übrigen von dem Anschlag betroffenen Bahnen, auf den anderen Bahnhöfen herrschte inzwischen schon helle Panik. Unsere Bahn war schon einmal mit den Sarin-Beuteln an Bord nach Ikebukuro und zurück gefahren.
Eine Sache ärgert mich heute noch. In Ikebukuro werden die Türen geschlossen und die Züge inspiziert. Die Beamten schauen nach, ob jemand etwas vergessen hat. Vielleicht lag das Zeug in einem toten Winkel, und sie haben es übersehen. Hätten sie sich nicht ein bisschen gründlicher umschauen können?
Bei der Notrufzentrale kamen wir einfach nicht durch, also entschied der Bahnbeamte, wir sollten zu Fuß gehen. Zwei, drei Minuten vom Bahnhof entfernt gibt es ein Krankenhaus. Ein junger Stationsgehilfe begleitete uns. Es war gut, dass wir in Awajicho ausgestiegen waren, denn wären wir bis Hongo-Sanchome weitergefahren, wäre alles viel schlimmer geworden, weil wir mit den Sarin-Beuteln in einem abgeschlossenen Raum geblieben wären.
[Frau Nakayama wurde fünf Tage auf der Unfallstation behandelt.]
Nach dem Anschlag konnte ich mehrere Monate nicht arbeiten. Ich litt unter Atemnot. Das war sehr problematisch, da ich bei meiner Arbeit viel sprechen muss. Natürlich hatte ich eine unheimliche Wut. Und ich wusste, dass die Täter Mitglieder der Aum-Sekte waren … Aber heute ist der
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