Untergrundkrieg
die Zahl der Opfer gering halten können. Ein schreckliches Versäumnis. Wahrscheinlich hat auch die Kommunikation zwischen den einzelnen Stellen versagt.
Jedenfalls schleppte ich mich die Treppe hoch. Nichts wie raus, dachte ich, sonst wird das dein Ende. Inzwischen spürte ich eine große Gefahr. Ich kam irgendwo auf der anderen Seite in Yurakucho heraus und wollte so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Das Krankenhaus in Ginza, zu dem ich sonst immer gehe, ist von Yurakucho aus noch ziemlich weit. Weil ich Angst hatte, auf der Hauptstraße umzufallen, ging ich durch kleinere, hintere Straßen. Ich torkelte wie ein Betrunkener. Es war alles so dunkel und verschwommen, und die ganze Zeit hörte ich das Sirenengeheul und Geklingel von Krankenwagen und Feuerwehr. Überall stolperten halbblind Leute herum. Irgendetwas ganz Furchtbares war im Gange.
Zuerst ging ich in mein Büro und bat einen Kollegen, mich ins Krankenhaus zu bringen. »Jemand muss mich begleiten. Ich kann kaum noch was sehen«, sagte ich. Im Krankenhaus waren schon zwei oder drei Patienten mit den gleichen Symptomen. Als ich der Krankenschwester an der Aufnahme erklärte, dass ich nichts sehen könne, sagte sie, sie seien keine Augenklinik. Sie hatte überhaupt keine Ahnung. Aber als immer mehr Leute mit den gleichen Symptomen kamen und das Fernsehen die Einzelheiten brachte, begriff das Krankenhauspersonal allmählich, dass hier ein Notfall zu bewältigen war. Sie funktionierten die Sofas im Foyer zu Liegen um und machten Infusionen und so weiter. Bald trafen auch medizinische Informationen per Fax ein.
Später verlegte man mich in ein anderes Krankenhaus, in dem ich vier Tage blieb. Meine Augen besserten sich allmählich, und am zweiten Tag konnte ich schon wieder relativ normal sehen. Nur hatte ich furchtbare Schmerzen im Kopf und in den Schläfen. An Schlaf war nicht zu denken. In jeder Nacht wachte ich immer wieder auf und schlief nie mehr als zwei oder drei Stunden. Ich hatte mich schon beinahe damit abgefunden, nie wieder ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein. Jedenfalls schienen die Aussichten denkbar schlecht. Drei oder vier Menschen waren bereits gestorben und einige lagen im Koma.
Zwei Tage nach meiner Entlassung fuhr ich wieder zur Arbeit, obwohl mein Zustand das eigentlich gar nicht erlaubte. Ich fühlte mich schlapp und wurde sehr leicht müde. Außerdem konnte ich mir überhaupt nichts merken. Selbst bei Routineangelegenheiten musste ich überlegen. Das war zwar seltsam, aber ich konnte dennoch nicht beurteilen, ob es tatsächlich vom Sarin kam. Einen Beweis dafür hatte ich nicht. Außerdem sah ich Gespenster und traute mich nicht, Auto zu fahren.
Eine Zeit lang hatte ich auch Angst, mit der U-Bahn zu fahren. Aber es geht ja nicht anders, also musste ich mich dazu zwingen. Ganz geheuer ist es mir noch immer nicht, aber was bleibt mir übrig? Wenn man so was mitgemacht hat, kriegt man ganz schön Angst, wenn man in einer großen Kiste aus Metall in einen dunklen Schacht unter die Erde rast. Aber als Büroangestellter habe ich ja keine andere Wahl. Wie soll ich sonst zur Arbeit kommen?
Ich werde wirklich wütend, wenn ich den Quatsch höre, den diese Aum-Leute von sich geben. Warum mussten sie für so einen Typen unschuldige Menschen töten? Wo soll ich hin mit meinem ganzen Zorn …? Ich finde, die ganze Bande muss so schnell wie möglich abgeurteilt und bestraft werden.
»Seltsamerweise war mir sofort klar: Das ist Sarin«
Ikuko Nakayama (etwa 30)
Frau Nakayama stellte von Anfang an die Bedingung, dass ihr Name, ihre Adresse und ihr Alter nicht preisgegeben und ihre persönlichen Daten möglichst unkenntlich gemacht würden. Sie hegt immer noch großes Misstrauen gegenüber den Anhängern der Aum-Sekte. Besonders da sie in der Nähe eines Aum-Zentrums wohnt, befürchtet sie Schwierigkeiten, falls ihre Identität bekannt würde.
Sie ist um die dreißig, verheiratet und hat keine Kinder. Nach dem Studium war sie eine Weile in einem Büro beschäftigt und ist jetzt Hausfrau. Seit kurzem arbeitet sie als Japanischlehrerin für Ausländer, eine Tätigkeit, die sie interessant und befriedigend findet.
Von allen Opfern des Sarin-Anschlags, die ich interviewt habe, war sie eine der wenigen, die den Verdacht hatten, dass es sich um Sarin handeln könnte. Die meisten stolperten ahnungslos durch das alptraumhafte Chaos. Frau Nakayama erkannte die Symptome. »Die Pupillen verengen sich so – es muss Sarin sein!« Während
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