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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Japan um seine Sicherheit beneiden. Und kaum war ich wieder zurück, passierte so etwas! Und dabei war es nicht einmal ein gewöhnlicher Bombenanschlag, sondern ein Angriff mit einer chemischen Waffe. Für mich war das ein doppelter Schock.
    »Wozu?« fragte ich mich. Die IRA – um ein Beispiel zu nennen – hat gewisse Gründe, die man zumindest annähernd verstehen kann. Aber dieser Sarin-Anschlag war völlig unbegreiflich. Ich hatte das Glück, mit geringfügigen Symptomen und ohne Spätfolgen davonzukommen, aber das hilft natürlich nicht denjenigen, die ums Leben gekommen sind oder noch immer unter den Folgen leiden. Für die Toten spielt es zwar keine Rolle mehr, aber ich kann mir trotzdem einen sinnvolleren Tod vorstellen.
    Man kann nur hoffen, dass der Anschlag von allen Seiten gründlich untersucht wird. Persönlich bin ich der Ansicht, dass die Täter keine Gnade verdienen. Da Japan ein Rechtsstaat ist, haben wir die Gelegenheit, den Fall ausführlich zu diskutieren und zu überprüfen, wo die Verantwortung liegt. Wir müssen ernsthaft über angemessene Strafen nachdenken. Die Art der Gehirnwäsche, die hier im Spiel war, stellt einen Präzedenzfall dar, und wir müssen neue Normen festsetzen. Damit in Zukunft solche schrecklichen Vorfälle verhindert werden, muss eine öffentliche Debatte darüber stattfinden, wie wir als Nation mit solchen Krisensituationen umgehen.
    Nach dieser Erfahrung sollten wir als Nation eingehend darüber nachdenken, wie wir den Frieden und Wohlstand unseres Landes, die wir den Bemühungen der vorangegangenen Generationen verdanken, für die kommenden sichern und schützen können. Das ist meiner Ansicht nach für uns in Japan heute die Priorität. Wenn wir fortfahren, rein materiellen Zielen nachzujagen, sehe ich keine Zukunft für unser Land.
    Murakami: Sind Sie für Japans Zukunft eher optimistisch oder pessimistisch?
    Eher pessimistisch. Noch etwas ist mir seit dem Anschlag klar geworden. Ich bin inzwischen vierzig geworden und habe bisher ziemlich drauflos gelebt. Ich sollte mir allmählich über mich selbst und mein Leben tiefere Gedanken machen. Ängste verspüre ich eigentlich zum ersten Mal. Bisher habe ich immer sehr viel gearbeitet und glücklicherweise noch nie echte Sorgen gehabt.

»Mit dem Mädchen im Arm stolperte ich in Richtung Fahrkartensperre«
Michael Kennedy (63)
    Herr Kennedy ist Jockey und stammt aus Irland. Er hat viele große Rennen gewonnen und ist nun im Ruhestand. Er wurde nach Japan eingeladen, um an der Schule des Japanischen Reitsportverbands in Chiba junge japanische Jockeys auszubilden.
    Er ist in einem Vorort von Dublin geboren, wo er ein Haus besitzt. Er hat drei Söhne und zwei Töchter, alle sind verheiratet, und keines seiner Kinder lebt weiter als zehn Meilen von Herrn Kennedys Haus entfernt. Die Familie versteht sich sehr gut. »Mein Haus ist so eine Art Zentrale für alle.« Er hat zwei Enkel.
    Der zierliche, lebhafte Mann wirkt gesund, offen und gesprächig. Japan gefällt ihm ausgezeichnet, und in den vier Jahren, die er inzwischen hier lebt, hat er sich immer wohl gefühlt. Das Einzige, was er vermisst, ist zu »plaudern«. Außerhalb der Großstadt sprechen nur wenige Menschen Englisch, und er fühlt sich zuweilen etwas einsam.
    Jedenfalls macht es Herrn Kennedy große Freude, seine Erfahrungen an vielversprechende junge Jockeys weiterzugeben. Sooft unser Gespräch dieses Thema berührte, lächelte er.
    Zweifellos bedeutete der Sarin-Anschlag für ihn einen großen Schock, und ich bin mir nicht sicher, ob er ihn vollkommen überwunden hat. Ein Anschlag wie dieser trifft natürlich Japaner wie Ausländer gleichermaßen, und ich habe großes Mitgefühl mit Herrn Kennedy, der einem so unverständlichen Ereignis in einem fremden Land ausgesetzt war, dessen Sprache er nur unzureichend spricht.
    Einige Wochen nach unserem Interview war Herrn Kennedys Vertrag mit der Reitschule beendet, und er kehrte nach Irland zurück.

    Ich lebe seit rund vier Jahren in Japan. Das ist eine lange Zeit, und meine Familie fehlt mir sehr. Immerhin mache ich zweimal im Jahr Urlaub in Irland, und meine Frau kommt mindestens einmal nach Japan, das heißt dreimal Flitterwochen pro Jahr ( lacht ). Auch nicht zu verachten, oder?
    Ich bin seit dreißig Jahren Jockey. Mit vierzehn habe ich angefangen und war sechseinhalb Jahre Lehrling. Normalerweise dauert die Lehrzeit nur fünf Jahre, aber mein Boss hat immer gesagt, ich sei noch zu jung. So habe ich länger

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