Untergrundkrieg
Problem mehr.
Im Krankenhaus habe ich im Fernsehen gesehen, wie ich zusammengebrochen bin. Dieses Bild wurde auch in Irland übertragen. Eine meiner Töchter, die gerade zu Hause übernachtete, hat es gesehen und meine Frau gerufen. »Mama, komm schnell, in Tokyo hat es einen U-Bahn-Unfall gegeben. Papa ist dabei.« Erschrocken ist meine Frau die Treppe runtergerannt und hat mich im Fernsehen gesehen. So wussten es alle, ehe ich ihnen noch Bescheid sagen konnte. Viele Leute haben mir Briefe geschrieben, und überhaupt waren alle sehr nett.
Murakami: Tokyo gilt als eine der sichersten Metropolen der Welt, aber es ist doch seltsam, dass gerade dort ein solcher Anschlag geschehen ist?
Genau. Ich habe meine Meinung darüber auch nicht geändert. Tokyo ist die sicherste Stadt der Welt und Japan ein wunderbares Land. Man kann ohne jede Furcht durch die Straßen gehen. Ich bin auch seither viele Male mit der U-Bahn gefahren. Ich habe keine Angst.
Mir kann man sowieso nicht so leicht Angst machen. Es gibt wenige Dinge auf der Welt, vor denen ich mich fürchte. Pferderennen sind gefährlich, aber ich habe nie Angst gehabt. Ich werde älter, aber ich fühle mich nicht so – darin liegt die einzige Gefahr ( lacht ).
Murakami: Hat sich für Sie persönlich nach dem Anschlag etwas verändert?
Ja, ich glaube schon. Ich beobachte mich selbst genauer. Wenn ich mich über alltägliche Dinge aufrege, sage ich mir jetzt, dass es sich nicht lohnt, wo doch jederzeit so etwas passieren kann.
Mein Leben? Rennen zu reiten – das habe ich mein ganzes Leben getan. Seit ich mich erinnern kann. Ich habe an den großen Rennen der Welt teilgenommen und viele Male gesiegt. Das war wunderbar. Und heute trainiere ich die jungen Jockeys und habe das Gefühl, mit ihnen zu reiten. Auch das ist herrlich und mein Leben.
»Diese Angst werde ich nie vergessen«
Yoko Iizuka (24)
Frau Iizuka ist in Tokyo geboren. Sie arbeitet bei einer großen Bank in der Stadt. Weil sie sportlich ist, hält man sie für extrovertiert. Sie selbst bescheinigt sich »ein ausgeglichenes Wesen«. Sie ist nicht der Typ, der sich in den Vordergrund drängt, dazu ist sie zu wohlerzogen.
Doch bei der Bearbeitung dieses Interviews ist mir klar geworden, dass sie gar nicht so entspannt und ausgeglichen ist. Im Gespräch mit ihr stößt man auf eine große innere Stärke und Entschlossenheit. Doch zugleich ist sie sehr verletzlich und zart.
Ich glaube, es war ziemlich schwer für sie, einem Fremden diese Erlebnisse zu schildern, an die sie sich am liebsten nicht mehr erinnern würde. Dennoch hoffe ich, dass dieses Interview ihr geholfen hat, einen Schlussstrich zu ziehen, wie sie selbst einmal gesagt hat, und ihr einen Schritt in eine positive Richtung ermöglicht.
Vor dem 20. März, an dem der Anschlag passierte, hatte ich zehn Tage Grippe mit 39 Grad Fieber, das einfach nicht runtergehen wollte. Ich glaube, ich habe einen Tag frei genommen, ich weiß nicht mehr genau. Aber sonst bin ich immer zur Arbeit gegangen. Ich mag nicht als Einzige frei nehmen, wenn das für die anderen Mehrarbeit bedeutet.
An dem Tag hatte ich 37 Grad, also nur erhöhte Temperatur, aber noch immer einen schrecklichen Husten, und von dem anhaltenden Fieber tat mir alles weh. Wegen der Medikamente, die ich genommen hatte, konnte ich auch die Symptome der Sarin-Vergiftung nicht richtig einschätzen …
Immerhin hatte ich noch Appetit. Ich frühstücke immer ausgiebig, sonst arbeitet mein Kopf nicht richtig. Deshalb stehe ich meist schon so gegen halb sechs auf, damit ich mich in aller Ruhe fertig machen kann. So habe ich über zwei Stunden Zeit, bis ich kurz vor acht aus dem Haus gehe. Ich lese, ich sehe fern, schaue mir ein Video an. Alles Sachen, zu denen ich zu müde bin, wenn ich abends nach Hause komme.
Aber weil ich an dem Tag noch Fieber hatte, habe ich mich lieber ausgeschlafen und bin erst um halb sieben aufgestanden. Der 20. März war ein wichtiger Tag für mich, denn da sollte ich eine neue Aufgabe übertragen bekommen, und ich war am Morgen schon ziemlich aufgeregt.
Ich nehme immer die Hibiya-Linie und steige in Kasumigaseki in die Marunouchi-Linie um. Der erste Wagen ist zwar praktisch, wenn man später umsteigen will, aber meistens so voll, dass ich lieber in die letzte Tür des zweiten Wagens einsteige. Die Bahn kam auch gerade, und ich stieg schnell in die zweite, also in die mittlere Tür. Ich ging ein Stück zurück und blieb zwischen der zweiten und dritten Tür
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