Untergrundkrieg
hätte ich auf dem Bahnsteig hinter einem Pfeiler eine Pfütze gesehen. Und es roch nach irgendetwas, so ähnlich wie die Lösungsmittel, die auf Baustellen benutzt werden. Dieser Geruch nahm mir den Atem. Ich hatte als Kind schon Asthma und dachte, es hätte etwas damit zu tun. Die anderen Leute schienen es auch gar nicht eilig zu haben und strebten in aller Ruhe der Fahrkartensperre entgegen.
Als ich mich draußen umschaute, sah ich, dass ein Mann am Boden lag und Schaum vor dem Mund hatte. Jemand kümmerte sich um ihn. Überall kauerten Leute mit tränenden Augen und laufenden Nasen. Es war ein äußerst seltsamer Anblick. Ich hatte keine Ahnung, was los war, aber irgendwie lag Gefahr in der Luft. Da ich es sowieso nicht zur Arbeit schaffen würde und diese unbestimmte Gefahr spürte, beschloss ich, lieber eine Weile an Ort und Stelle zu bleiben.
Zuerst blieb ich stehen, aber dann setzte ich mich hin. Auf einmal wurde es um mich her ganz dunkel. Außerdem wurde mir schummrig, aber ich wunderte mich nur und kombinierte nicht, dass es zwischen der Explosion, dem Mann, der geschrien hatte, und den Leuten, die umgekippt waren, eine Verbindung gab. Und dass sie mich betreffen könnte, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Ich schaute mir das Ganze an und blieb instinktiv sitzen.
Obwohl es vielen wirklich sehr schlecht ging, versuchten sie, irgendwo hinzukommen. Darüber wunderte ich mich die ganze Zeit. Einige konnten sich nur mühsam aufrecht halten, und ein Mann kroch sogar! Dabei war ganz klar, dass sie es nie zur Arbeit schaffen würden.
Es saßen zwar eine ganze Menge Leute um mich herum, aber geredet habe ich eigentlich mit keinem. Nur zu einer Frau, die sich krampfhaft bemühte aufzustehen, habe ich gesagt: »Wenn Ihnen schlecht ist, bleiben Sie doch lieber sitzen.«
Murakami: Ich war zwar nicht dabei und kenne die Atmosphäre nicht, aber eigentlich würde man doch annehmen, dass Menschen in einer solchen Situation miteinander sprechen, sich fragen, was passiert ist und so weiter.
Ich habe mit niemandem gesprochen, aber ich weiß nicht genau, was die anderen Leute getan haben, ob sie sich unterhalten haben … Natürlich habe ich mich gefragt, was passiert war, aber ich habe mit niemandem darüber gesprochen und einfach nur so da gesessen. Mir ging es auch nicht besonders schlecht.
Es dauerte ziemlich lange, bis ein Krankenwagen kam. Ich habe auch nur den einen gesehen. Also sind die Frau und andere, die stärker betroffen waren, mit Taxis ins Krankenhaus gefahren. Offensichtlich funktionieren in solchen Fällen die Rettungsdienste nicht so besonders gut.
Kurze Zeit später fuhr ich auch mit drei anderen Personen in einem Taxi ins Krankenhaus. Wir waren alle keine schweren Fälle, und es eilte nicht. Die anderen drei waren Büroangestellte. Bestimmt haben wir im Taxi etwas geredet, aber ich weiß nicht mehr was.
Wir fuhren nach Akihabara ins Mitsui-Gedächtnis-Hospital. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum wir uns für dieses Krankenhaus entschieden hatten. Vielleicht hat uns jemand hingeschickt. Jedenfalls waren wir gegen zehn dort, und ich rief in meiner Firma an. Sie wussten schon Bescheid, denn zwei weitere Kollegen von mir waren ebenfalls betroffen. Nicht schwer, sie hatten etwa die gleichen Symptome wie ich.
Ich blieb zwei Nächte im Krankenhaus. Sie gaben mir ein Medikament, das die Pupillen erweitern sollte. Meine Pupillen vergrößerten sich daraufhin so stark, dass mich nun alles blendete. Außerdem konnte ich eine Woche lang nicht richtig sehen. Abgesehen davon ging es mir im Krankenhaus nicht so schlecht. Nur mein Asthma fing wieder an, was natürlich sehr unangenehm ist, aber daran bin ich gewöhnt.
Ich leide unter Erschöpfung, aber ob das nun tatsächlich vom Sarin kommt, kann ich nicht sagen. Es könnte auch eine Alterserscheinung sein … Ja, und ziemlich vergesslich bin ich auch, aber auch das kann an allem Möglichen liegen. Meine Rückenschmerzen sind in letzter Zeit heftiger geworden als früher, aber darunter leiden wohl die meisten Männer in meinem Alter. Da kann man keine eindeutige Grenze ziehen.
Wirklich beängstigend finde ich die Berichterstattung in den Medien. Besonders was im Fernsehen gezeigt wird, ist so einseitig. Es wird über irgendwelche Details berichtet, aber es entsteht der Eindruck von Objektivität. So werden Vorurteile erzeugt.
Ich habe immer noch die Szene vor dem Bahnhof Kodemmacho vor Augen. In dieser einen Ecke, wo die Verletzten saßen,
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