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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Anweisung für das Personal begann ich mich tatsächlich unwohl zu fühlen. Um mich herum wurde es ganz duster, sodass ich überlegte, ob die Beleuchtung abgeschaltet worden war. Mir lief die Nase, und mein Herz hämmerte. Ich wunderte mich, da ich ja nicht einmal erkältet war. Ich rief die Zentrale an und schilderte ihnen meinen Zustand. Es sei ernst, hieß es darauf, und wir fuhren die Haltestelle Ningyocho an, wo ich ausstieg.
    Dort war ein Arzt im Dienst, aber er konnte nichts für mich tun und schickte mich ins St. Lukas-Krankenhaus. Also legte ich mich im Stationsbüro hin und wartete auf die Schichtablösung. Mein Zug konnte ohne einen Ersatzmann für mich nicht weiterfahren.
    Mein Zustand blieb mehr oder weniger konstant. Mir lief sehr stark die Nase, und es wurde immer dunkler um mich herum. Aber mir wurde nicht schwindlig, und ich hatte auch keine Schmerzen. Meine Ablösung kam gegen Mittag, und ich wurde mit dem Rettungswagen ins Tajima-Krankenhaus gebracht. Dort waren keine Betten mehr frei, also schickten sie mich ins Militärkrankenhaus nach Setagaya. Da ich in Machida wohne, war das sowieso praktischer für mich.
    Ich blieb eine Nacht im Krankenhaus. Am nächsten Tag waren meine Pupillen immer noch verengt, aber die Nase lief nicht mehr, und ich durfte nach Hause. Eigentlich leide ich unter keinerlei Nachwirkungen, abgesehen davon, dass ich weniger schlafe. Früher konnte ich sieben Stunden am Stück schlafen, heute wache ich nach vier oder fünf auf. Nicht weil ich etwas träume oder so – ich wache eben einfach auf.
    Ob ich Angst habe? Wenn ich als U-Bahn-Beamter Angst vor der U-Bahn hätte, könnte ich nicht mehr arbeiten. Mitunter fühle ich mich vielleicht ein bisschen unsicher, bemühe mich aber, nicht an den Anschlag zu denken. Was passiert ist, ist passiert. Das Wichtigste ist zu verhindern, dass so etwas ein zweites Mal geschieht. Darauf versuche ich mich zu konzentrieren.
    Ich bemühe mich auch, keinen persönlichen Groll gegen die Täter zu hegen. Hass nützt niemandem etwas. Natürlich ist es schrecklich, dass Kollegen von mir ums Leben gekommen sind. Wir, die hier beschäftigt sind, sind wie eine große Familie. Wie können wir den Hinterbliebenen helfen? Wir können fast nichts für sie tun. Nur aufpassen, dass es nicht wieder passiert. Das ist das Wichtigste. Deshalb dürfen wir den Anschlag auch nicht vergessen. Ich hoffe, dass meine Worte, wenn sie gedruckt sind, dazu beitragen werden, die Erinnerung wachzuhalten.

»Bestimmt hat irgendein Irrer ein Pestizid ausgestreut«
Takanori Ichiba (39)
    Herr Ichiba ist bei einer Designerfirma beschäftigt. Ich kenne mich in der Modebranche nicht besonders gut aus, aber ich kenne das Geschäft (mit Terassencafé) in Aoyama und erinnere mich, dass ich irgendwo einmal eine Krawatte von dieser Firma gekauft habe, die mir noch immer gut gefällt. Nach dem Interview habe ich ein paar rotbraune Chinos erstanden, die im Sonderangebot waren – Sie können also sicher sein, dass der Stil des Hauses nicht extravagant ist, eher klassisch-lässig.
    Menschen, die in der Modebranche arbeiten, sehen seltsamerweise meist jünger aus, als sie sind. Herr Ichiba ist fast vierzig, hat aber ein sehr jugendliches Gesicht. Er wirkt überhaupt nicht wie ein Mann in mittleren Jahren; aber vielleicht erfordert es sein Beruf, dass er jugendlich wirkt. Auf seinem Gesicht schwebt stets ein leichtes Lächeln (natürlich lächelt er nicht unentwegt, aber man hat diesen Eindruck).
    Ungeachtet seines sanften Auftretens hat Herr Ichiba einen scharfen Verstand. Als er an der Station Tsukiji die Lautsprecherdurchsage hörte, tippte er sofort auf einen Zusammenhang mit dem Anschlag in Matsumoto. Vor dem Bahnhof in Shibuya kümmerte er sich um einen verletzten Kollegen und brachte ihn ins Krankenhaus. Auch damit bewies er, dass er seinen Kopf zu gebrauchen vermag. Es ist nicht einfach, in Krisensituationen richtig zu reagieren.
    Er zögerte, als ich ihn um das Interview bat. »Was soll es bringen, jemanden wie mich zu befragen, der nur leicht verletzt wurde? Es gibt doch viel schwerere Fälle. Bei mir war doch gar nichts.« Daraufhin erklärte ich ihm, es gehe mir nicht darum, wie schwer er verletzt wurde, sondern um seine Perspektive – seine Wahrnehmung.

    Ich stamme aus Kumagaya in der Präfektur Saitama. Gleich nach der Schule habe ich bei einer Textilfirma angefangen und bin nicht lange danach zu meiner jetzigen Firma übergewechselt. Am Anfang waren wir nur zehn

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