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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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los?« dachte ich. Aber auf dem Bahnsteig war es so voll, dass man von innen nichts sehen konnte.
    Da kam die nächste Durchsage, »Wir unterbrechen die Fahrt hier«, worauf ungefähr ein Drittel der Fahrgäste ausstieg. Ich blieb sitzen. Erfahrungsgemäß ist es besser zu warten, weil die Züge meist doch gleich weiterfahren. Es ist Unsinn, mittendrin umzusteigen.
    Nach drei, vier Minuten kam wieder eine Durchsage: »Dieser Zug fährt nicht weiter. Bitte aussteigen.« Von Kodemmacho bis Kayabacho sind es noch zwei Haltestellen. Zu Fuß schafft man das in dreißig bis vierzig Minuten. Ich wollte mich beeilen und kurz nach neun in der Firma sein. Ich nahm meine Papiertüte von der Gepäckablage und stieg aus. Da sah ich ein Stück weiter vorne an einem Pfeiler einen Mann liegen. Seine Arme und Beine zuckten, als hätte sein letztes Stündchen geschlagen.
    Ich lehnte meine Tüte gegen die Wand und hielt seine Beine fest. Aber er zitterte unglaublich stark. Seine Augen waren fest geschlossen. Etwa sechs oder sieben Minuten hielt ich ihn so fest. Er ist später gestorben. Er war der elfte Tote. Ein Herr Tanaka aus Urawa, dreiundfünfzig Jahre alt, genau wie ich.
    Ich gehöre eigentlich nicht zu denen, die einfach vorbeigehen. Wenn irgendwas los ist, packe ich mit an. »Du bringst dich immer in Schwierigkeiten«, kriege ich öfter zu hören ( lacht ). Aber ich kann nicht einfach wegschauen. Ein Stückchen entfernt war eine Frau zusammengebrochen und von etwa zehn Personen umringt. Wenn man einer Frau helfen will, muss man ein bisschen vorsichtig sein. Bei einem Mann ist das was anderes, da gibt es keine Probleme. Eine Menge Leute standen um sie herum. Weil ich in der Hocke saß, konnte ich ihr cremefarbenes Kleid sehen und erkennen, dass es eine Frau war. Wie ich später erfahren habe, hieß sie Frau Iwata, war zweiunddreißig Jahre alt und starb zwei Tage später.
    Ich wandte mich an die Leute auf dem Bahnsteig und rief: »Hier ist jemand ohnmächtig geworden. Holen Sie den Stationsvorsteher!« Ich schaute mich um, konnte aber auf dem ganzen Bahnsteig keinen Bahnbeamten entdecken.
    Bald kam einer, aber er ging direkt zu der Frau. »Kommen Sie her, hier ist einer krank«, rief ich. »Ich bin allein und kann nicht an zwei Stellen gleichzeitig sein«, erwiderte er. Später habe ich gehört, dass auch er schwer verletzt wurde und beinahe gestorben wäre.
    Ich hockte also da und hielt die Beine des Mannes. Auf einmal nahm ich einen Gestank nach verfaulten Zwiebeln wahr. Kurz gesagt, einen ungewöhnlichen Geruch. Da ich mich an die Durchsage von der Gasexplosion erinnerte, dachte ich, es müsse Gas sein. Vielleicht aus einer städtischen Gasleitung. Also musste ich so schnell wie möglich raus. Ich stand auf, schnappte mir meine Tüte (ich habe tatsächlich daran gedacht) und rannte los. Das Einführen der Fahrkarte in die Sperre hätte zu lange gedauert, also sprang ich über die Barriere, rannte die schmale Treppe rauf und schrie dabei die ganze Zeit: »Gas! Raus hier!«
    Alle anderen trotteten ahnungslos und langsam die Treppe rauf. Zu allem Überfluss gingen sogar noch Leute runter, um mit der Bahn zu fahren. Bahnbeamte, die sie hätten aufhalten können, waren nicht zu sehen. Als ich so herumschrie, beschwerten sich manche: »Immer langsam« und »Nicht drängeln«. Vielleicht fürchteten sie, eine Panik könnte ausbrechen.
    Aber ich drängelte mich einfach durch und rannte nach draußen. Dann bog ich nach fünf oder sechs Metern in eine Gasse ein, weil ich mir einbildete, auf der Hauptstraße könnte es gefährlicher sein. Die Gasse war vollgeparkt mit Autos. Ich wollte sogar in einen von den geparkten Wagen einsteigen. Natürlich war er abgeschlossen, aber ich war so kopflos, dass ich gar nicht daran dachte. Dann wollte ich in ein Gebäude flüchten, also suchte ich eins, in dem schon Licht brannte, aber die Tür war verschlossen, weil es noch so früh war. Ich ging gerade über die Straße, als es vor meinen Augen plötzlich zu flackern begann. Wie wenn man in ein Feuerwerk starrt. Ungefähr zehn Sekunden später wurde alles schwarz. Es war ein klarer Tag, aber es war so dunkel, dass ich nichts mehr sehen konnte.
    Rennen konnte ich auch nicht mehr, aber ich wollte unbedingt noch die Straße überqueren. Ich handelte beinahe instinktiv. Es war nur eine schmale Gasse, aber ich stolperte und fiel. »Jetzt muss ich sterben«, dachte ich. »Ich will nicht sterben.«
    Dann hörte ich die Stimme eines Mannes fragen: »Was ist

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