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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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drei Wochen zu Hause bleiben sollen, aber dann wäre der Laden ja kaputtgegangen ( lacht ). Ich bin für alle Umbrüche verantwortlich, niemand kann mich vertreten. Länger als zwei, drei Tage können wir es nicht schleifen lassen. Also ließ ich mir schon am vierten Tag Arbeit ins Krankenhaus bringen und gab Anweisungen über Telefon. Ich war zwar krank, aber nicht müßig. Wahrscheinlich hat das sogar zu meiner Genesung beigetragen.
    Darum bin ich auch später wieder mit der gleichen Bahn gefahren und habe mich auf den gleichen Sitz gesetzt. Ich habe mir sogar die Stelle angeguckt, an der ich das Bewusstsein verloren habe. Damals hatte ich mir eingebildet, ich wäre unheimlich weit gerannt, dabei bin ich höchstens fünfzig Meter weit gekommen.
    Nach dem Anschlag verspürte ich eine Zeit lang das Bedürfnis, alles loszuwerden. Aus Überdruss und Erschöpfung. Von Natur aus bin ich eher ein Mensch, der Dinge aufbewahrt. Zum Beispiel habe ich immer noch mein Plastikmäppchen aus der Grundschule. Oder meine Schulmütze. Aber nach dem Anschlag wollte ich alles loswerden. Inzwischen ist ein Jahr vergangen, und dieses Gefühl ist verschwunden, aber damals fand ich, es lohne sich nicht, irgendetwas aufzuheben. Ich wollte sogar meine geliebten Bonsaibäume weggeben.
    Als ich plötzlich nichts mehr sehen konnte, ging mir durch den Kopf, wie sinnlos es doch wäre, so zu sterben. Tatsächlich soll ich im Krankenhaus mit lauter Stimme geschrien haben: »Ich will nicht sterben!« Man konnte mich auf dem ganzen Gang bis ins Foyer hören. Die Leute, die dort warteten, kriegten eine Gänsehaut und haben es jetzt noch im Ohr. Als Sechsjähriger bin ich beim Schwimmen im Fluss einmal fast ertrunken. Ich erinnere mich, dass ich dachte: »Einmal wurde ich schon gerettet, aber jetzt muss ich hier blind werden und sterben.« Und in meinem Hinterkopf loderte unheimliche Angst auf. Gar nicht einmal, weil ich an meine Familie dachte. Ich wollte einfach nur nicht sterben. Nicht so und nicht dort.
    Ich habe keinen Hass auf die Täter. Zuerst war ich unheimlich wütend, aber diese Wut hat sich verhältnismäßig schnell gelegt. »Todesstrafe, richtet sie hin!« – darüber bin ich hinaus. Wenn man einen solchen Hass zu lange mit sich herumschleppt, wird man auch die Symptome nicht los. Vielleicht habe ich aber auch nur leicht reden, weil bei mir keine schwerwiegenden Folgen wie starke Kopfschmerzen zurückgeblieben sind …

»Ich habe am 20. März Geburtstag und wurde am Tag des Anschlags fünfundsechzig«
Kei’ichi Ishikura (65)
    Herr Ishikura war für einen Handtuchfabrikanten tätig und ist mit fünfundfünfzig in den Ruhestand getreten. Jetzt arbeitet er für einen Gummibandhersteller in Ningyocho. Er gab mir dieses Interview bei sich zu Hause, und ich war tief beeindruckt von der Sauberkeit der Räume und dem hervorragend gepflegten Garten. Ein so blitzsauberes Haus sieht man selten.
    Herr Ishikura wohnt etwas außerhalb in der Nähe der Station Tanizuka an der Tobu-Isezaki-Linie. Er steht jeden Morgen um halb vier auf, macht sauber, nimmt ein Bad und fährt in die Firma. Erstaunlich.
    Nicht dass ihm das Saubermachen besonders Spaß macht, aber er hat beschlossen, in irgendetwas unschlagbar zu sein. So kam er zum Saubermachen. Obwohl er selbst sich als »gedankenlosen und unüberlegten Charakter« bezeichnet, machte er auf mich doch einen sehr gewissenhaften und willensstarken Eindruck.
    Herr Ishikura war dem Sarin nicht unmittelbar auf dem Bahnsteig ausgesetzt. Als er gerade zufällig am Bahnhof Kodemmacho vorbeiging, beobachtete er, wie ein Opfer auf der Straße zusammenbrach, und ging besorgt nach unten, um nachzusehen, was passiert sei. Allein dadurch erlitt er eine Sarin-Vergiftung. Von den Personen, die ich interviewt habe, ist er der Einzige, der auf diese Weise verletzt wurde. Herr Ishikura leidet bis heute unter den Nachwirkungen seiner Vergiftung.

    Ich bin am 20. März geboren und hatte am Tag des Anschlags meinen 65. Geburtstag. Ich stamme aus Ono in der Präfektur Fukui. Das liegt in der Nähe des Eihei-Tempels. Von dort sind es noch ungefähr zwanzig Minuten mit dem Auto durch die Berge. Meine Familie hatte eine Molkerei. Sieben, acht Kühe, die jeden Morgen gemolken wurden. Die Milch wurde pasteurisiert, in Flaschen abgefüllt und verkauft. Sieben, acht Kühe hört sich wenig an, aber wir haben 800 Haushalte in der Umgebung beliefert. Damit ist man von morgens bis abends auf den Beinen. Ich fand das sehr

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