Untergrundkrieg
weh oder so. Sie sagten mir, ich solle keinen Tropfen Alkohol trinken, und ich trank auch lange Zeit nichts.
Schließlich ließ ich mich eine Woche krankschreiben und machte drei Monate lang immer pünktlich Schluss. Dass mein Chef Verständnis dafür gezeigt hat, hat mir sehr geholfen.
Ehrlich gesagt, habe ich seitdem ziemliche Zweifel an der Zuverlässigkeit von Polizei, Feuerwehr und überhaupt den ganzen Rettungsdiensten. Natürlich hatte Tsukiji Priorität, aber trotzdem sind sie viel zu spät in Kodemmacho eingetroffen. Als die Ambulanz endlich kam, hatten wir sie schon aufgegeben. Was wäre passiert, wenn wir nicht zur Selbsthilfe gegriffen hätten? Natürlich war die Polizeiwache vor Ort überfordert, aber die Beamten hätten sich trotzdem etwas kompetenter zeigen können. Auf die Frage, welche Krankenhäuser in Frage kämen, mussten sie erst mal zehn Minuten über Funk Informationen einholen.
Überhaupt ließ sich die Polizei erst blicken, als die Rettungsaktion schon fast vorbei war. Erst dann leiteten sie wegen dem einen Rettungswagen, der doch noch aufgetaucht war, den Verkehr um. Das soll der japanische Katastrophenschutz sein? Nach den vielen Opfern, die der Sarin-Anschlag in Matsumoto gefordert hat, müssten doch sowohl die Polizei als auch die Krankenhäuser etwas gelernt haben. Die Beziehung zwischen Aum und Sarin war auch bekannt. Wäre man dieser Spur gründlicher nachgegangen, hätte dieser zweite Anschlag vielleicht sogar verhindert werden können. Zumindest hätte ich nicht so viel abgekriegt.
Im Krankenhaus habe ich ein paar von den Helfern gesehen, die Verletzte aus dem Bahnhof geborgen haben. Einige waren bettlägerig, weil sie bei der Rettungsaktion Sarin eingeatmet haben. Das darf nicht verschwiegen werden. Schweigen ist eine Schande. Inzwischen gerät das, was passiert ist, schon langsam wieder in Vergessenheit. Aber ich will auf keinen Fall, dass es vergessen wird. Ich möchte vieles anprangern. Warum werden bislang keine Programme zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen durchgeführt? Warum hat der Staat bis jetzt keine Erhebungen zur Lage der Opfer durchgeführt? Ich werde nicht schweigen.
»Es wäre schrecklich, so sinnlos und blind zu sterben«
Michiru Kono (53)
Herr Kono wurde 1941 als Sohn eines Landwirts in Tochigi nördlich von Tokyo in der Präfektur Oyama geboren. Es war das Jahr, in dem der Pazifikkrieg begann. Nach der Schule erhielt er durch die Vermittlung eines Bekannten eine Stelle in einer Druckerei in Kayabacho. Zu jener Zeit fuhren noch Pferdewagen durch die Straßen von Kayabacho, und von den Dächern der Häuser aus konnte man noch das rote Backsteingebäude des Tokyoter Bahnhofs sehen. Bis Herr Kono einundzwanzig war, wohnte er in einem Wohnheim seiner Firma. In seiner Freizeit ging er ins Kino oder unternahm Bergwanderungen mit seinen Freunden.
Mit achtundzwanzig – kurz vor der Weltausstellung in Osaka 1969 – heiratete er. Seine Frau hatte er bei einem Ausflug an die Küste kennen gelernt. »Es war in dem Jahr, als es den ersten Tora-san-Film gab« , erinnert er sich. 17
Herr Kono hat eine Tochter von vierundzwanzig und einen Sohn von einundzwanzig Jahren. Beide leben in Soka, in der Präfektur Saitama. Herr Kono ist kräftig gebaut und war noch nie krank. Maßhalten im Essen und Trinken ist für ihn das A und O einer guten Gesundheit. Ist er zum Beispiel an einem Abend zum Trinken ausgegangen, trinkt er am nächsten Tag keinen Tropfen Alkohol, auch nicht, wenn seine Frau ihm zum Abendessen aus Versehen ein Bier hinstellt. Er ist sehr willensstark.
Zurzeit geht er einmal in der Woche eine Stunde schwimmen. Die körperliche Schwächung, die er durch den Sarin-Anschlag erlitt, hat ihn dazu gebracht. Sein Hobby ist Bonsai. Wenn das Gespräch auf dieses Thema kommt, leuchten seine Augen und er gerät ins Schwärmen. Nach dem Anschlag war Herrn Kono jedoch die ganze Welt derart zuwider, dass er sogar seine achtzig geliebten Bonsaibäume verschenken wollte. Am Ende machte er seinen Entschluss zum Glück wieder rückgängig, aber da hatte ein Freund schon seine zehn größten und schönsten Bäume abgeholt. Der Anschlag hat Herrn Kono wirklich einen heftigen Schock versetzt.
Unsere Firma druckt hauptsächlich Formulare und Register für Bürozwecke, Buchhaltung und so weiter. Sie ist nicht groß, aber alteingesessen, und wir haben viele Stammkunden. Ich arbeite schon neununddreißig Jahre im selben Betrieb, seit 1957. Andere Möglichkeiten
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