Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
durchlief sie. Ihre eigene Unentschlossenheit machte sie rasend.
So sieht jemand aus, der einen Auftragskiller sucht.
5
Manchmal stellt dich das Leben vor eine Kreuzung. Ein Wegweiser zeigt hinüber ins liebliche Tal, der andere ins Unterholz. Nimm nicht den erstbesten Weg.
Indisches Sprichwort
In ganz Westindien blühte der Senf, auch in Mumbai, das früher Bombay hieß. Auf der Straße schepperten Eselskarren, die mit Heu und Stoffballen vollgestopft waren. Fauchende Trockennasen-Affen verfolgten harmlose Bananenkäufer, während die Sonne hinter der Stadt unterging. Irgendwo meditierte ein weißbärtiger Yogi. Mächtige Elefanten liefen durchs Bild, sie waren die untrüglichen Vorboten einer indischen Hochzeit: Frauen in kostbar aussehenden Saris sangen Lieder von Glück und reiner Liebe, selig lächelnde Männer umtanzten einen Schimmel, auf dem der bärtige Bräutigam saß. Aus einem der bunten Häuser schlingerten Laute, als ob jemand Sitar übte:Tschoingtaschatschoinasiriiischauauau! Wie gesagt: In ganz Westindien blühte der Senf. Trotzdem gab es etwas durch und durch Werdenfelserisches dort in Mumbai, denn in einem der bunten Häuschen lag eine Karte des Loisachtals im Maßstab 1 : 10000 ausgebreitet auf dem billigen Plastiktisch. Sie war über und über mit Notizen und Zeichen vollgeschmiert. Viele kleine Nebenwege waren markiert – und der Wolzmüller-Hof war sogar mehrmals eingekringelt. Drei Männer beugten sich darüber, sie fuhren Seitenstraßen und Trampelpfade mit den Fingern ab: den Stangensteig, den Schrottelkopfweg und die Bölserhöhe. Milchkaffeehäutig waren die Männer, sie hießen Pratap Prakash, Dilip Advani und Raj Narajan, und alle drei waren hochgradig reisefiebrig. Die Koffer waren gepackt, morgen früh ging der Flieger, ihr erstes Ziel war die bayrische Landeshauptstadt, dann sollte es weitergehen nach Süden, ins Werdenfelser Land. Noch aber saßen sie in dem kleinen Häuschen in einem der vielen Vororte von Mumbai, bissen in ihre dreieckigen Samosas und tranken Mango-Lassi dazu. Andere hätten vor solch einem Trip Champagner getrunken, aber man weiß vielleicht, dass indischer Champagner im Ländervergleich nicht ganz oben steht.
»Weiterbildung!«, hatte ihr Chef gesagt. »Weiterbildung ist heutzutage wichtiger als alles andere.«
Der Chef war ein mächtiger Mann. Wenn der Chef eine solche Einladung aussprach, dann befolgte man sie. Sofort. Seine Wahl war auf Europa gefallen. Ziemlich in der geographischen Mitte von Europa gab es einen Alpen-Kurort mit unaussprechbarem Namen, dort fand ein Seminar mit international bedeutenden Referenten statt. Und da sie dann schon mal in Europa und in Deutschland wären, sollten sie auch gleich einen bestimmten Auftrag dort erledigen.
»Da seht her, Kat – zen – kopf – höl – zl«, buchstabierte Pratap Prakash, und Dilip Advani versuchte ebenfalls, einige fremde Namen zu entziffern.
»Freunde«, sagte Pratap Prakash feierlich, »der Flug morgen führt uns in ein unbekanntes Land. Ich freue mich auf die vielen neuen Eindrücke, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir auch ein Projekt durchzuführen haben. Ein ehrenvolles Projekt. Und ein wichtiges Projekt. Wir dürfen nicht versagen. Wir dürfen unseren Chef nicht so enttäuschen wie Mohit Bannerjee, der leider nicht mehr unter uns weilt.«
»Da hast du etwas ganz und gar Richtiges in gute Worte gefasst«, sagte Dilip Advani. »Wir haben einen Auftrag. Aber die vielen fremden Gebräuche, die es dort gibt! Ich habe im Reiseführer etwas gelesen vom Jodeln, vom Schuhplatteln, von Weißwürsten, die über die geraniengeschmückten Balkone geworfen werden, um die bösen Geister zu vertreiben.«
Unglaublich, was in indischen Reiseführern über Europa im Allgemeinen und das Werdenfelser Land im Besonderen so alles steht. Raj Narajan, der bisher geschwiegen hatte, schwieg auch weiterhin. Er wurde Der Stumme genannt, kein Mensch wusste mehr, ob er aus religiöser Inbrunst schwieg, wegen eines geleisteten Schwures oder gar wegen eines körperlichen Mangels, zum Beispiel einer fehlenden Zunge. Raj Narajan, der Stumme, nahm einen Zettel und kritzelte etwas darauf.
»Madhva sagt«, so schrieb er, »dass man bei jeder guten Reise folgende neun Dinge erleben sollte: Liebe, Heldentum, Ekel, Komik, Schrecken, Wundersames, Wut, Pathos und Friedvolles.«
Raj Narajan zeigte seinen Freunden den Zettel.
»Er wieder mit seinem Madhva«, sagte Pratap Prakash augenrollend.
»Habt ihr die
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