Unterland
Alice?«, fragte Nora. »Es ist doch ganz einfach: rechts, rechts, links nachziehen, rechts, rechts, links nachziehe n … beim letzten Mal hast du es doch sofort gekonnt.«
Beim letzten Mal hatte ich auch nicht, kaum dass sie das Radio einschaltete, daran denken müssen, wie fieberhaft sie den Kriegsverbrecherprozess verfolgt hatte! Inzwischen hatte es weitere Prozesse gegeben, Henry wusste es aus Zeitungen, die er am Bahnhof gesehen hatte. Auch Frauen waren unter den Angeklagten gewesen, Aufseherinnen aus Kazett, dem Lager, von dem Ulf gesprochen hatte. Ehemalige Häftlinge hatten gegen sie ausgesagt.
Von Herrn Helmand war nichts zu hören, während wir übten, aber nie hätte ich für möglich gehalten, welch bedrohliche Ausstrahlung ein Paar Füße haben konnten, die hinter einem Kleiderschrank hervorschauten. Ob Wim über alles, was geschehen sein mochte, Bescheid wusste? Seit ich ihn kannte, war er versessen darauf, nach Südamerika zu gelange n – wollte er am Ende nur seine Mutter außer Landes bringen, bevor jemand dahinterkam, was sie während des Krieges getan hatte?
Ich geriet fast ins Straucheln vor Schreck, als die Füße sich plötzlich über den Rand der Matratze schwangen und mitsamt dem Rest von Herrn Helmand hinter dem Schrank auftauchten. Sein Gesicht war bleich und missmutig, die Augen hinter den dicken Brillengläsern zusammengeschnurrt. Mit leicht vornüberhängenden Schultern schlurfte er zur Tür, wohl um zum Klo zu gehen, und pflückte im Vorbeigehen ein Fetzchen Papier von einem der Holzscheite, die in der Blechtonne steckten. »Das Zeug ist ja immer noch da«, brummte er und wühlte vorwurfsvoll in der Tonne.
»Wir haben die letzten Tage nur unten geheizt, Richard«, erinnerte ihn Nora.
Die Luft wurde schlagartig reiner, nachdem er gegangen war. Man hatte buchstäblich das Gefühl, wieder atmen zu können, und ich setzte schnell hintereinander zwei Schritte rechts und einen nach links, als hätte ich mein Lebtag nichts anderes getan. Wim griff sofort fester zu und plötzlich merkte ich, wie wir im Takt der Musik über den Boden schwebten.
»Ihr habt es begriffen!«, rief Nora entzückt. »Oh, ich sehe Alice schon vor mir in ihrem hübschen Klei d …!«
Sie stellte das Radio lauter und begann sich ebenfalls im Takt der Musik zu drehen, spontan öffnete Wim den Arm und auf einmal tanzten wir zu dritt. Die beiden lächelten mir zu, unsere Arme ineinander verschlungen, sie schauten mir ins Gesicht und erst Nora, dann Wim, dann ich summten mit: »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn und dann werden tausend Märchen wah r …«
Ich hätte gern geweint, weil wir nicht imstande waren, die Zeit anzuhalten.
Und meine aufgetürmten Vermutungen, Erinnerungen, vermeintlichen Beweise stürzten in sich zusammen wie ein Stapel loser Bretter. Es konnte, es durfte nicht sein. Nicht Nora! Am liebsten wäre ich zur Tür gesprungen und hätte sie verriegelt, damit er nicht zu uns zurückkam.
Es war Herr Helmand, der in Angst lebt e – nicht sie! Er war es, der sich von Orten fernhielt, an denen Polizei auftauchen konnte, der sich weigerte, aus dem Haus zu gehen, um eine Arbeit anzunehmen. Er ließ sich von ihnen aushalten, kommandierte sie herum, zerriss sogar ihre Andenken. Wieso ließen sie das zu? Ich an Noras Stelle hätte mir die Schnipsel längst aus der Tonne geholt.
Und plötzlich hatte ich eine Idee, die so wunderbar war, dass mir fast die Luft wegblieb. Ich konnte nicht verhindern, dass sie diesen seltsamen, unheimlichen Mann heiratete, aber Nora würde ein Hochzeitsgeschenk von mir bekommen. Ein einzigartiges, wertvolles Geschenk, ein Geschenk, das ein Geheimnis zwischen uns bleiben würde! Wohin sie auch gingen, würde es Nora und Wim an mich erinnern.
Herr Helmand fand es lächerlich, dass Nora weiterhin jeden Morgen zur Arbeit aufbrach. »Die paar Mark, die du im Monat bekommst, verdient Wim an zwei Tagen! Du verbrauchst nur unnötig Kalorien, also sei so klug und lass es sein.«
Aber Nora setzte sich durch und verließ jeden Morgen das Hau s – um ein paar Stunden von ihm wegzukommen? Wenig später gingen Herr Helmand und Wim gemeinsam fort, Wim auf den Schwarzmarkt in St . Pauli, Herr Helmand wer-weiß-wohin. In der Regel war er nach höchstens einer Stunde wieder zurück.
Es kostete Überwindung, von meiner Matratze aufzustehen. Wir alle, selbst die kleinen Wranitzkys, schalteten bereits in den Winterschlafmodus: weniger bewegen, weniger reden, mehr herumliegen.
Weitere Kostenlose Bücher