Unterland
müssen wir aber weiterüben«, sagte Wim tapfer und stellte das Radio ab. »Wie wäre es mit morgen?«
»Morgen können wir nicht«, kam Herrn Helmands Stimme hinter dem Schrank hervor.
»Möchtest du einen Tee, Alice?«, fragte Nora zögernd.
Ich setzte mich zu ihnen aufs Sofa und vermied den Blick auf die Seite des Zimmers, in der sich Wims Kartons stapelten. Es waren nur noch sechs Kisten, den Rest musste er schon abgestoßen haben. Wollanks packten, daran führte kein Blick vorbei.
Auf der anderen Seite des Zimmers stand der Kleiderschrank und ich konnte Herrn Helmands Fußspitzen sehen, die dahinter hervorschauten. Er saß auf seiner Matratze, man hörte das Rascheln dünnen, knisternden Papiers, wie es sich zwischen den Seiten von Fotoalben befindet. Zwischendurch knackte es leise, wenn er ein angeklebtes Bild entfernte, gefolgt von einem entschlossenen »Rrtsch«, das Nora zusammenzucken ließ.
»Ich hätte auch gern einen Tee«, rief Herr Helmand, kaum dass wir uns gesetzt hatten. Nora stand noch einmal auf und brachte ihm eine Tasse und ich fühlte eine kleine Welle der Abneigung mich schneller wärmen als das Heißgetränk. Wer war e r – der Kaiser von China?
»Nein, das nicht!«, sagte Nora auf einmal scharf und einer seiner Füße trat heftig in die Luft, während sie offenbar miteinander rangelten.
»Sei nicht albern. Das muss alles weg!«, zischte Herr Helmand, aber Nora trat rasch zurück und hielt ein kleines Foto schützend hinter ihren Rücken.
»Das ist auch mein Leben!«, sagte sie atemlos.
Herr Helmand schwang die Füße über den Rand der Matratze und aus den Augenwinkeln sah ich, wie Wim eine erschrockene Bewegung machte, es sich anders überlegte und sitzen blieb.
Ich stellte meine Tasse ab. »Ich glaube, meine Ooti hat mich gerad e …«, begann ich, aber Nora kam schon zum Sofa zurück, versperrte mir den Weg und lächelte.
»Hat sie nicht, ich hab nichts gehört«, sagte sie. »Bleib doch noch ein bisschen.«
Herr Helmands linker Fuß tauchte langsam wieder über der Matratze auf, schwebte dort noch einen Augenblick, dann kam der rechte und beide streckten sich wieder aus. Mit einem kalten Gefühl in der Brust verstand ich, dass er im Begriff gewesen war, auf Nora loszugehen, und dass er nur deshalb davon abließ, weil ich im Zimmer war.
»Was macht die Schule?«, fragte Nora und mein Verdacht sah sich augenblicklich bestätigt, denn Was macht die Schule? ist der letzte Strohhalm. Was macht die Schule? kommt gleich nach dem Wetter, wenn man entweder nicht weiß, worüber man sich unterhalten soll, oder ganz dringend etwas zu überspielen hat.
»Wir haben zurzeit keine Schule«, antwortete ich und nahm einen Schluck Tee, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Aufenthalt in ihrem Zimmer so rasch wie möglich hinter mich zu bringen, und der Einsicht, bleiben und den Frieden retten zu müssen. »Es ist zu kalt. Wir holen uns nur noch unsere Hausaufgaben und die Schulspeisung ab.«
Wir lächelten uns an. Da saßen wir und taten, als ob nichts wäre, und hinter dem Schrank plünderte Herr Helmand raschelnd und knisternd Noras Fotoalbum. Wie Schnee regneten Schnipsel in die Blechtonne, in der sie das Heizmaterial für ihre Brennhexe aufbewahrten.
»Deine Freundin Leni ist im Krankenhaus«, berichtete Sonja am nächsten Mittag, als wir in der Schlange für die Schulspeisung anstanden.
Da Leni nicht mehr meine Freundin war, hatte ich kaum darauf geachtet, dass sie fehlte, und erschrak. »Was hat sie denn?«
»In ihrer Hütte ist Scharlach ausgebrochen«, erwiderte Sonja und setzte hinzu: »Das war gestern, aber wer weiß. Meine Mutter meint, wenn man Pech hat und ins Krankenhaus muss, kriegt man noch alles dazu, was man vorher nicht hatte.«
Ooti machte sich noch am selben Nachmittag auf den Weg zu Broders und kehrte mit besorgtem Gesicht zurück.
»Grete darf nicht einmal zu ihr«, sagte sie. »Unter diesen Umständen ist das wohl auch das Beste, aber die arme Kleine!«
»Mutter, du warst doch nicht etwa in einer Hütte, in der Scharlach grassiert?«, fragte Mem in hellem Entsetzen.
»Grete hat keinen Scharlach«, erwiderte Ooti, aber es war nicht zu übersehen, dass sie bei Mems Worten erschrak. Genau wie ic h – ich hatte ihr von Leni erzählt und Ooti war losgelaufen. An Ansteckung hatten wir überhaupt nicht gedacht.
»Auf keinen Fall schläfst du die nächsten Tage mit Alice auf einer Matratze!«, bestimmte Mem.
»Aber Mem, wo soll Ooti den n …«
»Das ist
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