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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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General Montgomery, der Chef der Tommys, uns einen Brief. Auch er wurde an den Plakatwänden ausgehängt, damit wir Bescheid wussten. Ausführlich erklärte der General, dass unser Volk zwei Kriege verschuldet habe und nach Jahren der Verwüstung und des Gemetzels nun endlich geschlagen sei. Die Alliierten wollten uns jedoch nicht nur besiegen, schrieb er, sie wollten uns eine Lehre erteilen.
    »Ihr habt euch wahrscheinlich gewundert, warum unsere Soldaten euch nicht beachten, wenn ihr ihnen zuwinkt oder auf der Straße einen guten Morgen wünscht, und warum sie nicht mit euren Kindern spielen«, begann der Brief, bevor er zu einer langen Rückschau über den Krieg ansetzte. »Viele von euch«, fuhr er fort, »scheinen gemeint zu haben, dass ihr mit unseren Soldaten gut Freund sein könntet, als ob nichts Außergewöhnliches geschehen wäre. Es ist aber dafür zu viel geschehen. Unsere Soldaten haben gesehen, wie ihre Kameraden getötet, ihre Häuser in Trümmer geschossen wurden und wie ihre Frauen und Kinder hungerten. Sie haben in den Ländern, in die eure Führer den Krieg trugen, schreckliche Dinge gesehen. Für diese Dinge, meint ihr, seid ihr nicht verantwortlich, sondern eure Führer. Aber aus dem deutschen Volke sind diese Führer hervorgegangen, jedes Volk ist für seine Führung verantwortlich, und solange sie Erfolg hatte, habt ihr gejubelt und gelacht.«
    Die Erwachsenen lasen schweigend und mit erschrockenen Gesichtern.
    »Erklärt euren Kindern, warum unsere Soldaten sich nicht mit ihnen abgeben«, forderte der letzte Satz sie auf.
    Aber das war, was mich betraf, nicht mehr nötig. Ich war seitdem nie mehr nach rechts gegangen, wenn ich aus dem Gartentor trat, ich schaute, wenn es sich irgend vermeiden ließ, nicht einmal zu den Tommys hin.
    Nicht, dass man sie ignorieren konnte! Der Duft aus ihren Küchen zog Tag für Tag zu uns herüber und sorgte dafür, dass wir zusätzlich zum Hunger auch noch Appetit bekamen. Zwar weckte er keine Erwartun g – wir wussten, dass sie nichts abgaben, da zunächst die Länder zu versorgen waren, die im Krieg zu ihren Verbündeten gehört hatten und ebenfalls Hunger litten. Doch was viel schlimmer war: Der Duft weckte Erinnerungen. Gegen Erinnerungen gleich welcher Art ist man machtlos. Wenn Erinnerungen erst mal geweckt sind, dann ist es mit einem Paar weichen Knien und ein bisschen Schwindel nicht getan, dann tut es richtig weh.
    Den Tommy-Zaun konnte man auch aus anderen Gründen nicht vergessen. Wenn ein Auto die Straßen der weniger zerstörten Bezirke entlangfuhr, mal hier kurz stehen blieb, mal dort vielleicht langsamer fuhr, stand den Bewohnern der umliegenden Häuser das Herz still.
    Auch damit hatte Mem versucht, Frau Kindler zu überzeugen: »Dass sie uns eine weitere Familie ins Haus legen, ist ein gutes Zeichen. Das heißt doch, dass sie nicht vorhaben, unser Haus für die Besatzungstruppen zu beschlagnahmen!«
    Aber die misstrauische Frau Kindler hatte wieder mal nur eins gehört: »Unser Haus? Haben Sie unser Haus gesagt? Das ist immer noch mein Haus und wird es bleiben, auch wenn ihr jetzt hundert Mal in der Überzahl seid!«
    Wenn sie sich da nur nicht täuschte. Frau Kindler hatte das Glück gehabt, dicht genug an den ausgewählten Villen zu wohnen, um von Bomben verschont zu bleiben, doch es würde ein Leichtes sein, den Zaun an der Stelle zu öffnen, an der ihr Garten lag. Zack, war ihr Haus dri n – und wir draußen. Die Tommys fuhren mehr und mehr Personal aus England ein, um ihre Zone zu verwalten. Es kamen Soldaten, Bürokraten, Schreibkräfte, es kamen deren Familie n … und alle mussten wohnen.
    Ich hasste den Tommy-Zaun. Ich hasste ihre Küchen, ich hasste die ganzen englischen Tommy-Schilder in unserem Viertel. Dass die Soldaten längst die Erlaubnis hatten, freundlich zu uns Kindern zu sei n – so offiziell, dass es uns wiederum verkündet worden wa r –, hieß doch noch lange nicht, dass ich nun ebenfalls Lust dazu haben musste! Die Erwachsenen redeten zwar immer noch vom Frieden und taten, als ob wir ihn hätten, weil nicht mehr geschossen wurde und man frei reden durfte. Aber in Wirklichkeit, hatte Graber uns erklärt, in Wirklichkeit befanden wir uns mit den Alliierten immer noch im offiziellen Kriegszustand. Sie hatten uns besiegt und besetzt und wir waren weiterhin der Feind.
    Bitte schön! Konnten sie haben! Bis vor wenigen Minuten war ich der festen Überzeugung gewesen, dass Henry genauso darüber dachte wie ich.
    Er schien

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