Unterland
Frage durch den Kopf. Ich glaube nicht, dass ich den leicht verletzten, überraschten Gesichtsausdruck hinbekäme, den meine Mutter aufsetzt, wenn man sie mit etwas konfrontiert, worauf sie nicht sofort eine Antwort weiß.
»Und wenn es Henry wäre?«, hielt Ooti ihr entgegen.
Mem biss sich auf die Lippen. Dabei hatte sie gar nichts gesagt! Mem glaubte, dass Ooti sich etwas vormachte, dass sie ihre Kraft vergeudete durch stundenlanges In-der-Kälte-Stehen am Bahnhof, obwohl die letzte Nachricht von Onkel Jan, Foors jüngerem Bruder, drei Jahre alt war. Ein einziges Mal nur hatte sie ihre Zweifel angedeutet, aber das reichte, um Ooti auf immer in den Ohren zu klingen.
»Das nächste Mal komme ich wieder mit«, versprach ich meiner Großmutter, um sie aufzumuntern. Aber sie gab nur knapp zurück: »Sieh du erst mal zu, dass du ein neues Bein bekommst!«, was Mem mehr traf als mich und mit Sicherheit auch so gemeint war.
Ooti hatte ihr Pappschild abgestellt und war bereits dabei, sich von mehreren Lagen Tüchern zu befreien, die sie sich gegen die Kälte um Kopf und Beine gewickelt hatte. Dass es taute, machte keinen Unterschied, Ooti fror, seit wir auf dem Festland angekommen waren. Ich nahm das Schild und legte es auf den höchsten unserer Sperrholzkartons, ich drehte die Vorderseite nach unten, damit Onkel Jan ein wenig Ruhe hatte. Wenn ich vermisst wäre, würde ich jedenfalls nicht wollen, dass mein Bild Tag und Nacht die Familie anstarrte und fragte: »Wer kennt Alice Sievers?«
Mem erkundigte sich nie, ob Ooti jemanden getroffen hatte, der Onkel Jan kannte; sie wollte meiner Großmutter nicht zumuten, eine Antwort zu geben, die ihr ohnehin ins Gesicht geschrieben stand. Im flackernden Licht unserer Petroleumfunzel war sie auch heute nur allzu deutlich lesbar.
»Seit halb drei sind sie nun drin«, sagte Mem stattdessen mit einem angedeuteten Blick nach oben, dem wir alle unwillkürlich folgten, obwohl über uns das Zimmer von Frau Kindler lag, in das die Fürstin und ihr Sohn mit Sicherheit nicht gebeten worden waren.
»Jetzt sitzen sie da und schmieden Pläne, wie sie es zurück nach Hause schaffen«, malte ich uns aus. Ooti erwiderte: »Wenn sie eine Idee haben, auf die wir noch nicht gekommen sind, teilen sie es uns hoffentlich mit!«
Wir lächelten uns an. Ohne Ooti wäre ich verloren, ein Blatt im Wind.
»Der arme Leo musste auch schon wieder antreten«, berichtete Me m – als ob es noch einer Erklärung bedurfte, was sich im Zimmer über uns abspielte! Jeden Abend lauschten wir der immer gleichen Wiederholung desselben Hörspiels.
Es begann gegen sechs, wenn Herr Kindler, der arme Leo , nach Feierabend mit schleppenden Schritten und hängenden Schultern die Treppe hinaufschlich. Seine Augen waren geschwollen, und was im Vorjahr ein kräftiger Hals gewesen war, schlackerte in Form von zwei Falten unter seinem Kinn wie die Kehllappen eines besonders niedergeschlagenen Truthahns.
»Warum kommst du erst jetzt? Jetzt ist es zu spät, sie sind drin!«, hatte seine Mutter ihn diesmal empfangen, was immerhin eine kleine Abwechslung war, denn normalerweise begrüßte sie ihn mit den Worten: »Alles ist nur deine Schuld! Wenn du endlich hier einziehen würdest, hätten wir die obere Etage für uns!«
Dann knallte die Tür hinter ihnen zu. Wer sie knallte, hatten wir noch nie gesehen, aber der arme Leo war es vermutlich nicht.
So kurz ich Herrn Kindler erst kannte: Dass seine Schritte früher leichter gewesen waren, hatte auch ich in Erinnerung. Geradezu getänzelt war er nach der Kapitulation. »Es waren schon Offiziere der Militärregierung da, sehr interessiert, sehr kundig, sie lieben deutsches Bier, allein die Abnahme durch die Militärregierung wird die Anlagen Tag und Nacht laufen lassen, die Lieferung von Hopfen ist kein Proble m …«
Wir standen im Flur um ihn herum und freuten uns mit. Herrn Kindlers Erleichterung umwehte ihn, ein zaghaftes, dankbares Leuchten, das seine Haarspitzen zum Beben brachte. »Nur ein Fragebogen noch, zwölf Seiten, mit persönlichen Angabe n …«
»Dass du schon dreiunddreißig eingetreten bist«, mahnte Frau Kindler, »musst du ihnen aber nicht unter die Nase reiben.«
Er schüttelte milde den Kopf. »Wir Fabrikanten waren alle in der Partei, das wissen die doch längst. Lass uns nicht mit einer Lüge beginnen, Mutter.«
Obwohl alle von Entnazifizierung redeten, hatte ich noch immer nicht ganz begriffen, was mit dem Wort eigentlich gemeint war. War
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