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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Entnazifizierung die innere Reinigung durch Beantwortung des Fragebogens? Die Aushändigung der Arbeitserlaubnis, durch die man in den Kreis der regulären Menschen wiederaufgenommen wurde? Herr Kindler hatte seinen Fragebogen abgegeben und das Nächste, was man hörte, war, dass er darum kämpfte, die Brauerei zurückzubekommen.
    »Du hast erwähnt, dass wir Göring beliefert haben?«, schrie Frau Kindler durchs ganze Haus.
    Herr Kindler war so kleinlaut, dass von ihm nur Wortfetzen zu hören waren: » … Referen z … Qualitä t … oberster Feinschmecke r …«
    Er war als belastet eingestuft worden, schlimmer ging kaum noch. Mit seiner vorläufigen Einstufung kam er praktisch gleich nach den Kriegsverbrechern, die gerade in Nürnberg vor Gericht standen. Herr Kindler durfte, solange er auf sein Verfahren wartete, aus nur einem einzigen Grund überhaupt noch arbeiten: weil der neue vorläufige Leiter der Brauerei von der Herstellung von Bier keine Ahnung hatte. Irgendeine seltsame Fügung wollte es, dass der Mann ausgerechnet Hauser hieß; er hatte neben der Brauerei tatsächlich auch das Haus von Herrn Kindler übernommen und diesen auf ein Feldbett in der Waschküche abgedrängt.
    Jeder von uns verstand stillschweigend, warum dies dem armen Leo immer noch lieber sein musste, als bei seiner Mutter einzuziehen. Die Dielen über uns ächzten und knackten; Kindlers waren noch nicht an dem Punkt ihrer Auseinandersetzung angekommen, an dem man mithören konnte, aber gemessen an der Beanspruchung der Dielen konnte es nicht mehr lange dauern. Ich stellte mir den armen Leo vor, wie er über uns auf und ab hetzte, um der Stimme seiner Mutter auszuweichen, die nörgelnd und klagend an ihm zerrte.
    Herr Kindler war in Ordnung, darüber waren sich alle im Haus einig. Im November hatte er uns drei Familien mit Hektor in den Wald gefahren, um das bisschen Holz, das uns laut Karte zustand, schlagen zu können, er hatte sogar mit angefasst. Aber gegen den Zorn seiner Mutter war er noch wehrloser als wir.
    »Diese ganzen Menschen im Haus, diese ganzen Schritte!« Wie vorhergesehen, läutete Frau Kindler jetzt die schrille Phase des Hörspiels ein. »Dauernd läuft jemand herum, tapp, tapp, tapp, tapp, tapp, und jede Nacht dieses grausliche Geschrei!«
    »Du könntest selbst noch in diese Lage kommen, also sei still und fordere das Schicksal nicht heraus«, flehte ihr Sohn.
    »Schicksal? Papperlapapp! Wenn jemand für unsere Lage verantwortlich ist, dann bist das du!«
    Aus der Innentasche ihres Mantels holte Ooti eine lederne Brieftasche, die noch von Grofoor stammte, und entnahm ihr unsere vier Lebensmittelkarten für die kommende Zuteilungsperiode. »Sie kommen uns weiter entgegen«, sagte sie müde, während sie Mem die Karten reichte, die sie auf dem Rathaus abgeholt hatte. »Wenn nicht genügend Essbares zu beschaffen ist, warum nicht gleich den Leuten die Rennerei ersparen?«
    Mem riss ungläubig die Augen auf. Ich sah, wie sie hastig die winzigen Mengen überschlug, die auf den Abschnitten standen. Wie die Hand, die die Karten hielt, ihr in den Schoß fiel. »Eintausend Kalorien«, sagte sie schwach. »Das kann nicht ihr Ernst sein!«
    »Selbst in Hamburg dürfte es kein Problem sein, tausend Kalorien pro Tag einzusammeln«, bekräftigte Ooti. »Engpass beseitigt, ab sofort sind alle wieder versorgt. Das ist Politik, meine Lieben. Hört gut hin, Henry und Alice, hier lernt ihr was fürs Leben.«
    Ich schielte zu Henry, was ich vermieden hatte, seit er wieder im Zimmer aufgetaucht war. Wenn die Tommys ihm etwas Essbares zugesteckt hatten, wäre dies ein gutes Stichwort gewesen, jetzt damit herauszurücken, aber mein Bruder machte keine Anstalten.
    Hieß das, er hatte nicht einmal darum gebeten? Es war das in meinen Augen einzig denkbare Motiv, sich an die Tommys heranzumachen. In allen Farben hatte ich mir ausgemalt, wie er Büchsen mit Corned Beef und in oranger Soße schwimmenden Bohnen auf den Tisch stapelt e – und ich mich heldenhaft weigerte, auch nur einen Bissen anzurühren! Ich hatte mir eine flammende Rede zurechtgelegt über Stolz und Angelegenheiten der Ehre, aber die Worte zerstoben bereits wieder, verloren sich in meinem Kopf. Aus welchem Winkel man Henrys Taschen auch betrachtete: Sie sahen nicht aus, als wäre irgendetwas darin. Nicht die kleinste Büchse malte sich ab, die er uns als Überraschung hätte präsentieren können!
    Meine Rede fiel aus, und damit leider auch der letzte Teil meines Auftritt s

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