Unterland
regelrecht auf mich gewartet zu haben, um es mir vorzuführen: wie er am Zaun entlangschlenderte, vorbei an einigen Tommys. Wie sie bei ihren Jeeps standen und rauchten und ihn durch ihren Zaun auf ihre Villen gucken ließen, als sei gar nichts dabei. Wie er sich umdrehte und rückwärts weiterging, den Blick auf mich gerichtet, und seine linke Hand am Zaun entlangstrich, bis ich das Kratzen des Drahtes an seinen Fingern zu hören meinte.
Wachte man nachts auf, sah man manchmal einen schmalen Schatten am Fenster. In seine Decke gehüllt stand Henry da, tat gar nichts, dachte einfach nur nach, und gegen das Mondlicht, das von draußen in unseren vorhanglosen Raum fiel, malte sich sein Gesicht ab: die hohe Stirn, die gerade Nase, das spitze Kinn. Es war ein wenig unheimlich, ihn so zu sehen; man drehte sich am besten schnell zur Seite und schlief weiter.
Mein Bruder konnte rätselhaft sein, daran war ich gewöhnt. Dass er plötzlich verrückt geworden war, schloss ich aus. Trotz unseres Streits glaubte ich auch nicht, ihn so verärgert zu haben, dass er mich bestrafen wollte, also wollte er mir mit der seltsamen Geste am Zaun wohl etwas mitteilen, aber was? Ratlos hob ich die Schultern in seine Richtung und schüttelte den Kopf.
Worauf Henry ebenfalls die Schultern hob, sich umdrehte und weiterging! Weiter unten an der Straße war der Zaun für eine Zufahrt unterbrochen; es gab einen Parkplatz, eine bewachte Schranke und wo einst Vorgärten gewesen waren, eine neue Straße entlang der Villen. Genau dort bog Henry ab, ging über den Parkplatz auf die Tommy-Schranke zu und die beiden Soldaten, die Wache schoben, traten zwei Schritte vor, um ihn zu fragen, was er wollte.
Ich hatte mich geirrt. Er war doch verrückt geworden.
Irgendw o – bei den einen im Bauch, bei den anderen im Kop f – sitzt eine Stimme, die ab und zu ungefragt alle bisherigen Erfahrungen zusammenwirft, kombiniert und einen Rat von sich gibt. So etwas nennt man eine Vorahnung, und genauso sicher, wie Vorahnungen zu einem späteren Zeitpunkt zutreffen, ist, dass man nicht darauf hört, solange man noch Gelegenheit hat. Ich konnte mich nicht dazu bringen, meinem Bruder auf die Tommy-Seite der Straße zu folge n – und dies, obwohl mich Stimmen in Kopf und Bauch geradezu im Chor beschworen, es würde mir noch einmal leidtun.
Leise, ganz leise klappte das Gartentor hinter mir zu. Ich schlich zum Haus zurück, als könnte ich, was ich gesehen hatte, ungeschehen machen, indem ich tat, als wäre ich überhaupt nicht draußen gewesen!
Und dabei fiel mein Blick auf das Fenster über der Küche.
Die Fürstin und ihren Sohn hatte ich beinahe vergessen. Mehrere Augenblicke stand ich wie angewurzelt und starrte auf die Kerze, die wie durch ein Wunder dort oben aufgetaucht war. Erst dann erkannte ich, dass es ein ganzer Leuchter mit drei geschwungenen Armen war, die fast die gesamte Breite des Fensters ausfüllten. Nur im mittleren Arm befand sich tatsächlich eine Kerze, aber diese brannte, brannte am helllichten Tag, obwohl Kerzen praktisch nicht zu bekommen waren. Die Fürstin und ihr Sohn hatten entweder Nerven wie Drahtseile oder keine Ahnung. Für jedermann sichtbar schrieben sie ans Fenster, dass sie auf dem Schwarzmarkt gewesen ware n – und dies in unmittelbarer Nachbarschaft der Tommys!
Und ich? Fühlte mich getröstet! Dachte an ein Zeichen! Wusste auf der Stelle, dass ich später, wenn es dunkel geworden war, noch einmal hinausgehen und zum Fenster aufschauen würde. Wenn man von einer Insel kommt, glaubt man an Leuchttürme.
Natürlich war ich nicht so dumm, mir einzubilden, dass das Aufstellen der Kerze etwas mit mir zu tun gehabt hatte. Jemand musste das Licht entzündet haben, um sich selbst Mut zu machen, Mut für die Ankunft an einem fremden Ort, an dem man ihn oder sie nicht haben wollte. Aber nun stand die Kerze da, war ein Leuchtturm, und das hatte sehr wohl mit mir zu tun! Ein Leuchtturm sieht, woher man kommt und wohin man will, aus keinem anderen Grund steht er da und warnt und hilft. Es konnte kein Zufall sein, dass er gerade heute hier aufgetaucht war.
Trotz allem, was später passierte, lässt sich immerhin sagen: Mit diesem Verdacht lag ich nicht falsch.
3
Ich komme nach Foor, meinem Vater. Ich habe seine dunkelbraunen Haare und Augen und seinen entschlossenen Mund, wie Ooti es nennt, während Henry und Me m – zu Henrys heimlichem Leidwese n – hübsch, lieb und immer ein wenig so aussehen, als ginge ihnen gerade eine
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