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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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aufnehmen!«
    »Wir werden das nie vergessen, Herr Kindler.«
    Obwohl es schon so lange her war, meinte ich immer noch Bitterkeit in Mems Stimme mitschwingen zu hören. Frau Kindler hatte es uns überlassen, diese zweite Helgoländer Familie auszusuchen, ihre einzige Vorgabe war gewesen: maximal vier Personen. Letzten Juni war das gewesen, sechs Wochen nach unserem Einzug.
    Eine ganze Nacht hatten Mem und Ooti sich den Kopf zerbrochen. Die Hansens mit ihren zwei kleinen Kindern? Die Petersens mit ihrem kranken Großvater? Oder doch die schwangere Minna Denker? Das Gewicht der Entscheidung lag so schwer auf ihnen, dass Mem am Morgen wieder ihren schlimmen Rücken hatte und nicht aufstehen konnte. Auf wen ihre Wahl gefallen war, erfuhr ich nie.
    »Tja, stattdessen kamen wir«, zankte die Wranitzky. »Am selben Tag, so ein Pech. Nur wir, keine feinen Helgoländer!«
    Niemand antwortete. Aber die Wranitzky hätte man krankschreiben müssen, wenn sie nicht noch eine Bosheit in petto gehabt hätte. »Und wann kam noch mal der Kreidestrich?«, vergewisserte sie sich scheinheilig. »Der kleine Sperrbezirk im oberen Stock? Das war nicht nach uns, das war nach Ihnen, Frau Bolle.«
    Der arme Leo riss mit rotem Kopf den Topf von der Platte, stellte den nächsten auf und eilte nach oben, damit er und seine Mutter Wäsche waschen konnten.
    »Tragisch«, bemerkte die Wranitzky. »Millionen Männer tot. Tapfere Männer, Familienväter! Und Waschlappen wie der da sind noch übrig.«
    »Versündigen Sie sich nicht, Frau Wranitzky«, sagte Mem scharf. »Ohne Herrn Kindle r …«
    »Schon gut, schon gut!«, unterbrach die Wranitzky mürrisch. »Wir wissen, wie die Sievers und Kindlers zueinander stehen, nicht wahr, Frau Bolle?«
    Wie immer, wenn Wranitzkys und Bolles im selben Raum waren, lag diese unerklärliche Spannung in der Luft. Erst nach Wochen des Zusammenlebens waren wir zufällig dahintergekommen, dass sie einander kannten. Sie stammten aus demselben Ort, mehr erfuhren wir nicht, und auch nicht, warum sie ihre Bekanntschaft nie erwähnten. Nicht das Geringste hatten sie sich anmerken lassen, als sie in Frau Kindlers Haus aufeinandertrafen.
    Frau Bolle beugte sich schweigend zum Backofen hinunter und tat, als prüfte sie die Temperatur, bevor sie sorgfältig sechs Kartoffeln auf den Rost legte. Die beiden hübschen Bolle-Schwestern hatten beim Hamstern mehr Erfolg als Henry, Ooti und Mem; fast immer kamen sie mit Kartoffeln, Brot, Schmalz oder sogar einer Wurst zurück. Irgendwie gelang es ihnen regelmäßig, nicht nur die Bauern zum Geben zu bewegen, sondern anschließend auch noch an den Razzien vorbeizukommen. In meiner Familie hingegen waren Hamsterfahrten ein fast noch leidvolleres Thema als der Hunger selbst. Für Mem, Ooti und Henry, weil es ihnen schwerfiel zu betteln, und für mich, weil ich nicht das Geringste beitragen konnte. Nicht einmal mit heißem Tee konnte ich sie empfangen, wenn sie spät am Samstagabend erschöpft zurückkamen.
    Auch die kleinen Wranitzkys glotzten stumm auf die Kartoffeln der Bolles. Alle drei hatten schon unter normalen Umständen ungewöhnlich hervortretende Augen, die im Laufe des Winters in immer stärkeren Kontrast zu ihren dünnlippigen, fast kinnlosen Gesichtern getreten waren. Dass auch die Wranitzky keinen Erfolg beim Hamstern hatte, erkannte man an den eingefallenen Gesichtern ihrer Kinder. Allmählich erinnerten sie mich ein wenig an Fliegen.
    »Sollte nicht jeman d …«, meldete ich mich endlich zu Wort, nachdem ich schon fast zehn Minuten vergeblich darauf gewartet hatte, dass einer der Erwachsenen seine Pflicht tat, »sollte nicht jemand oben Bescheid sagen?«
    Nicht der kleinste Laut war aus dem Zimmer über uns zu hören. Die Fürstin und ihr Sohn hatten wahrscheinlich nicht daran gedacht, ihre Lampe einzuschalten, damit sie den Strom, wenn er kam, nicht verpassten.
    »Es ist voll genug hier«, sagte die Wranitzky. »Die können kommen, wenn wir fertig sind.«
    »Aber dann ist der Strom vielleicht wieder aus«, gab ich zu bedenken.
    Die Wranitzky sah mich scharf an, ihre Antwort richtete sie an Mem: »Sollen sie sich erst mal an den Stundenplan gewöhnen! Und der sagt, sie sind nicht vor halb acht dran.«
    »Wenn wir nach dem Stundenplan gingen, wären Sie jetzt auch nicht mehr dran, Frau Wranitzky«, versetzte Mem kühl. »Henry, geh bitte hinauf und klopf an.«
    »Das mache ich! «, rief ich eilfertig und stand von der Küchenbank auf, wo ich, unsere Wäsche vor mir auf

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