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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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verspürte fast schon Zuversicht: Ooti würde ans Fenster hämmern, bis jeder, in dem auch nur ein Hauch von Leben steckte, wieder auf die Füße sprang!
    »Lass die Scheibe ganz, Winnie«, barmte Frau Kindler.
    Meine Großmutter kam oben an, hob die Hand, ließ sie wieder sinken, schaute intensiv an der heruntergebrannten Kerze vorbei durchs Fenster und verkündete: »Sie sind weg.«
    Weder Ooti noch ich hatten je erwarten dürfen, zu Expertinnen des Zugverkehrs zu werden. Bis vor einem Jahr hatten wir nur die kleine Lorenbahn gekannt, deren Schienen vom Inselhafen direkt in den Fels hineinführten; selbstverständlich hatte ich Bilder von Eisenbahnen gesehen und enthielt mein damaliges Mathebuch Aufgaben, die mit der umständlichen Beladung, der Geschwindigkeit oder zu erwartenden Ankunft von Güter- und Personenzügen zu tun hatten. Aber diese Zahlen auf Papier hatten mit meinem Leben ungefähr so viel zu tun gehabt wie Fallschirmspringen.
    Seit wir in Hamburg lebten, war das anders. An einem einzigen Nachmittag konnte man Heimkehrerzüge, Umsiedlerzüge, Hamsterzüge, Interzonenzüge, Kohlezüge und Güterzüge erleben, dazu die U-Bahn, die unterirdisch Stationen anfuhr, die es oberirdisch gar nicht mehr gab. Ein Fahrplan existierte nicht, man kaufte eine Bahnsteigkarte und wartete ab, was kam. Manchmal kam nichts. Dann hatte wieder jemand Bahnschwellen zum Verheizen geklaut.
    Ooti und ich warteten auf Heimkehrerzüge, wie so viele andere. Das Pappschild Wer kennt Jan Sievers? verschwand in einem Spalier von Schildern, die sich aussteigenden Soldaten entgegenstreckten. Noch im Halten weckte jeder neue Heimkehrerzug ein erst ersticktes, dann immer hemmungsloseres Schluchzen im Gedränge um mich herum, ein Schluchzen, vor dem mir zu grauen begonnen hatte, denn es war der Auftakt zu weitaus Schlimmerem: dem Verlust jeglicher Kontrolle. Schubsen, schreien, knuffen, rufen. Verzweiflung, wenn der Bahnsteig sich leerte, und Ootis ausdruckslos werdendes Gesicht. Selbst die wenigen Aufschreie der Freude begann ich zu fürchten und den Neid und die Härte in den Augen, zugekniffenen Mündern und geballten Fäusten um mich herum.
    Jan Sievers, zuletzt Smolensk Mär z 43. Hummerfischer, Ziehharmonikaspieler, Liederdichter. Wie war es möglich, dass sich niemand an ihn erinnerte? Als die Heimkehrerzüge im Herbst seltener wurden und Nachricht kam, dass die jetzt noch Gefangenen vor dem kommenden Frühjahr mit Sicherheit nicht entlassen werden würden, spürte ich, auch wenn ich mich dafür schämte, insgeheim Erleichterung.
    Dafür kamen andere Züge. Mehr und mehr waren es in letzter Zeit. Für Umsiedler aus dem Osten war Hamburg die zweite Station nach dem Auffanglager, wo man, wie die Wranitzky uns anschaulich beschrieben hatte, die Leichen bereits aus den Zügen geholt hatte. Die Umsiedler wurden gewaschen, desinfiziert und wenn selbst der letzte Koffer verloren gegangen war, notdürftig eingekleidet; sie erhielten Mitteilung über ihren Bestimmungsort und wurden weitergeschickt zur Aufnahme in der Zone. Auch sie kein schöner Anblick mit ihren ausgemergelten Gesichtern, die Babys und Kleinkinder oft von oben bis unten durchnässt und stinkend. Später sah man sie vor dem Rathaus in langen Schlangen stehen um Meldekarten und eine Adresse.
    Daran musste ich denken, als die Fürstin und ihr Sohn mit einem Mal hinter uns auftauchten. Der Junge lief barfuß, seine Mutter stand ohne ihren vornehmen Umhang d a – in den Lumpen, die sie zuvor darunter verborgen hatte. Eine mehrfach geflickte, viel zu weite Männerhose war mit einer Kordel um ihre Taille gebunden, über der Hose trug sie einen löchrigen Pullover und eine sackfarbene Weste, auf der quer und in schwarzen, an Stempelschrift erinnernden Buchstaben der Name LOU stand.
    Selbst in diesem Aufzug sah sie aus, wie ich mir eine Fürstin vorstellte. »Würden Sie mir verraten, was Sie an unserem Fenster zu schaffen haben?«, fragte sie an meine Großmutter gerichtet, die auf der Leiter stand, und ihre liebenswürdige Stimme schnitt eine messerscharfe Kerbe in die Nachtluft.
    Es kommt selten vor, dass Mem und Ooti gleichzeitig um Worte verlegen sind. Augenblicklich wurde mir sehr stark bewusst, dass ich es war, die uns alle in diese peinliche Lage gebracht hatte; möglichst unauffällig zog ich mich ein kleines Stück in den Schatten zurück, den das Küchenlicht hinter Sandra und Brigitte Bolle warf.
    Zwecklos, Frau Kindler hatte die Bewegung von oben schon entdeckt. »Die

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