Unterland
Kleine hat behauptet, Sie hätten sich umgebracht«, petzte sie.
Mir verschlug es den Atem. »Ganz so war es ja nicht, Mutter«, hub der arme Leo tapfer an, aber er war der Einzige, der die Wahrheit zumindest ansatzweise vorbrachte, alle anderen waren viel zu erleichtert, eine Kleine als Sündenbock zu haben. Brigitte trat schnell beiseite und ich stand im Zentrum des Lichts wie eine Zielscheibe.
»Warum sollten wir?« Zu meiner Erleichterung beachtete die Fürstin mich gar nicht. »Damit Sie Ihr Herrenzimmer zurückbekommen?«, fragte sie höhnisch. »Glauben Sie ernsthaft, wer aus Aussig herausgekommen ist, hat nichts Besseres zu tun, als sich jetzt noch umzubringen? Mein Sohn und ich haben anderes überstanden als das herzliche Willkommen hier bei Ihnen. Ob Sie mit einem Zimmer mehr oder weniger auskommen müssen, ist uns aufrichtig egal.«
»Wir haben uns Sorgen gemacht, das ist alles.« Mems Stimme zitterte leicht; ich konnte hören, wie verletzt sie war. »Ein Irrtum, für den ich mich in unser aller Namen entschuldig e – aber kein Grund, auf uns loszugehen.«
»Ganz egal, was wir da drinnen machen«, fuhr die Fürstin auf, »an unserem Fenster haben Sie nichts zu schaffen!«
Meine Mutter richtete sich kerzengerade auf. »Niemand wird durch Ihr Fenster schauen oder Ihr Zimmer betreten, ohne dass Sie ihn hereinbitten. Aber stellen Sie bitte nie, ich wiederhole: niemals!, eine Stuhllehne unter die Klinke.«
Die beiden maßen sich über die Entfernung mehrerer Meter hinweg.
»Na schön«, sagte die Fürstin endlich. »Wenn das zu Ihren Regeln gehört, werden wir uns selbstverständlich daran halten, solange wir unter einem Dach lebe n – was, wie wir alle hoffen wollen, nur von kurzer Dauer sein wird. Ich bitte im Gegenzug um Respektierung unserer Privatsphäre.«
»Schwierig«, erwiderte Mem wie aus der Pistole geschossen. »Zu viele Menschen im Haus.«
Wieder maßen sie einander wie Duellantinnen. Aus irgendwelchen Gründen fühlte Mem, die seit unserer Ankunft im Kiekebuschweg nichts anderes getan hatte als zu schlichten, zu mitteln und zu versöhnen, sich herausgefordert, der Fürstin keinen Zentimeter Oberwasser zuzugestehen.
Diese antwortete lächelnd: »Alles eine Frage des guten Willens!« Aber dazu machte sie ein Gesicht, als dächte sie darüber nach, den Vorgarten in die Luft zu sprengen.
»Dann wäre das ja geklärt, meine Damen!«, fiel der arme Leo hastig ein. »Lassen Sie uns bitte alle wieder ins Haus gehen, bevor die Ausgangssperre beginnt!«
Eilig packte er die Leiter, um sie vom Fenster wegzurücken; erst auf unseren kollektiven Aufschrei hin fiel ihm ein, dass noch jemand darauf stand. Ein Dutzend Arme stemmten sich dem schwankenden Holz entgegen, die der Fürstin und ihres Sohnes waren selbstverständlich nicht darunter.
»Jetzt können Sie runterkommen, Frau Sievers«, sagte der arme Leo kleinlaut, nachdem die Leiter wieder sicher an der Hauswand lehnte. Ooti schlug heftig nach seiner Hand, als sie auf der untersten Sprosse angekommen war.
Dann ging sie auf die Fürstin zu. »Winifred Sievers«, stellte sie sich vor. »Ihr Privatleben können Sie getrost vergessen, aber Sie werden sehen, dass Sie es trotzdem gut getroffen haben in diesem Haus. Alles ist bestens geregelt. Das Zusammenleben ist zu ertragen, mehr können wir nicht erwarten.«
Zu meiner Verwunderung glitzerten plötzlich Tränen in den Augen der Frau. »Nora Wollank«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Das ist mein Sohn, Wim.«
»Herzlich willkommen«, antwortete meine Großmutter warm und gab auch dem Jungen die Hand. »Wim, darf ich dir meinen Enkel Henry vorstellen? Auf einen wie dich hat er seit fast einem Jahr gewartet!«
Meine Ooti mochte die Situation gerettet habe n – aber auch sie konnte sich irren. Als Henry und Wim einander begrüßten, war deutlich zu erkennen, dass sie sich außer Hallo wenig zu sagen haben würden. Ohne zu zögern, ging ich auf Wim zu. Ich meinte es nicht böse, aber ich glaube, ich habe meinen Bruder regelrecht aus dem Weg geschoben.
»Und ich bin Alice«, verkündete ich, als ob es weiterer Worte nicht bedurfte, um zu klären, wer von uns beiden auf Wim gewartet hatte.
»Bevor ich andere frage«, gab er zurück, »was ist los mit deinem Bein?«
»Steif. Von hier ab.« Ich legte die Hand übers linke Knie.
»Geburt oder Krieg?«
»Tiefflieger.«
»Klar«, antwortete Wim. Das war alles. Vom Augenblick, in dem wir einander endlich gegenüberstanden, war es, als kennten
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