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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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auf der Stelle anders überlegte und doch mit uns nach draußen kam.
    Im Halbkreis standen wir stumm um die Leiter und folgten den zaghaften Schritten des armen Leo. Sandra und Brigitte hielten sich an den Händen, ihre Mutter murmelte lautlos vor sich hin; am liebsten hätte ich mich weggedreht, weil ihre Gesten und Mienen im Widerschein des Küchenlichts so unangenehm vertraut waren. Sie versetzten einen geradewegs zurück in den Bunker! Aus den Nachbarhäusern schien uns zum Glück doch niemand zu beobachten, da alle mit ihrem Strom beschäftigt waren.
    Der arme Leo musste sich mit beiden Händen am Fensterbrett festhalten, als er endlich oben angekommen war. Mem und Ooti, die die Leiter stützten, rückten unwillkürlich näher heran, als ob sie sich seinem möglichen Fall entgegenstemmen wollten.
    »Und? Was ist?« Frau Kindler hing mittlerweile so weit aus dem Fenster, dass es mich nicht überrascht hätte, sie als Nächstes ein Bein über den Sims schwingen zu sehen.
    »Sie liegen auf dem Sofa«, sagte der arme Leo nach mehreren endlosen Sekunden.
    »Gott sei Dank! Nicht erhängt!«, hörte ich Frau Bolle flüstern.
    »Tot?«, hauchte Mem.
    »Ich kann es nicht sage n … sie liegen einfach da.« Der arme Leo nahm eine Hand vom Sims und klopfte zart. Es hörte sich an wie das Trippeln kleiner Füße.
    »Bist du eine Maus?«, bellte seine Mutter.
    In der Küche wurde die Wranitzky nun doch von Neugier überwältigt und fing an, Dosen, Schüsseln und Krimskrams vom Fensterbrett zu räumen. »Siehst du etwas auf dem Tisch, Leo?«, forschte Ooti. »Pillendosen? Flaschen? Tütchen?«
    »Da steht nu r … eine Kiste.«
    »Was für eine Kiste?«, rief die Wranitzky, obwohl sie das Fenster erst halb geöffnet hatte.
    »Aus Metall«, vermutete der arme Leo. »Aufgeklappt«, fügte er bedeutsam hinzu.
    »Also, wenn ihr mich frag t …« Mem schüttelte den Kopf. »Die haben Fotos angesehen und sind darüber eingeschlafen. Die sind vielleicht seit Wochen nicht zum Schlafen gekommen!«
    »Was wir wohl besser wissen als Sie«, schnappte die Wranitzky, kaum dass sie ihren Oberkörper aus dem Fenster gearbeitet hatte. Ihr Gesicht leuchtete vor Genugtuung. Die Wranitzky ließ keine Gelegenheit aus, auf die Barbareien hinzuweisen, die sie gesehen hatte und die wir Helgoländer uns nicht einmal im Ansatz vorstellen könnten. (Sie sprach es Babba-Reihen aus und ich tappte wochenlang im Dunkeln, worauf sie überhaupt anspielte.)
    »Sie müssen sich doch wenigstens waschen!«, sorgte sich Frau Bolle. »Am Ende heißt es wieder: dreckige Flüchtlinge. Das wär gar nicht gut, wenn wir solche im Haus hätten.«
    »Nein, das sind feine Leute, das haben wir doch alle gesehen!«, widersprach Mem. Und die Wranitzky schnarrte: »Wie kommt die eigentlich an den teuren Mantel? Uns haben sie noch im Zug alles vom Leib gerissen, stimmt’s, Frau Bolle?«
    Frau Bolle und ihre Töchter sahen zu Boden. Während die Wranitzky pausenlos über ihre Vertreibung erzählte, hörte man von Bolles kein Wort; sie schienen regelrecht die Sprache zu verlieren, sobald sie dazu etwas sagen sollten.
    » Vier Mal hielt der Zug«, nahm die Wranitzky Fahrt auf, »und jedes Mal kamen sie reingestürzt, kreischend, mit Stöcken und Messer n …«
    Frau Bolle tupfte sich Schweiß von der Oberlippe. »Schon gut, Frau Wranitzky«, sagte Sandra scharf. »Wir waren dabei!«
    Die Wranitzky war so verblüfft, Sandra die Stimme erheben zu hören, dass sie die Zurechtweisung kampflos wegsteckte. »Ich sag ja nur, dass es nicht normal ist, dass die noch so einen Mantel hat.«
    »Dreckige Flüchtlinge heißt es so oder so. Egal ob gewaschen oder nicht«, bemerkte Henry. Mein Bruder hatte die Angewohnheit, über komplizierte Dinge nachzudenken, bevor er seine Meinung äußerte, sodass Themen oft schon gewechselt hatten, bis er sich zu Wort meldete. Daran, dass ihm dann niemand mehr antwortete, war er gewöhnt.
    »Wessen Schnapsidee war das eigentlich?«, fragte Frau Kindler ärgerlich.
    Meine Wangen wurden heiß. Der arme Leo rettete mich mit der nicht ganz logischen Antwort: »Wir alle haben gehört, dass sie sich nicht rühren.«
    »Komm runter, Leo«, kommandierte Ooti. »Lass mich mal.«
    Der arme Leo kam so schnell die Leiter herunter, dass wir einen Schritt zurückwichen. Meine Großmutter warf sich das Ende ihres Schals über die Schulter und kletterte los, Ungeduld in jedem Schritt, der Griff um die Sprossen kaltblütig und energisch. Ich war stolz auf sie, ich

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