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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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vorgefallen wäre, ich hatte nicht die geringste Lust, über Dinge nachzugrübeln, die ich lieber vergessen wollte. Wenn mir dies gelang, würde es in meinem Kopf vielleicht nicht ganz so vollgestopft sein wie in den Köpfen anderer Leute, und die Geister hätten bei mir weniger zu finden.
    »Alice, wenn du nicht augenblicklic h …!«
    »Ja, ja, schon gut, ich komm ja!«
    Mürrisch krückte ich an den kleinen Rotznasen vorbei, die nie einen Kommentar abgaben, sondern nur jeden Morgen im Flur auf mich warteten, um zu glotzen. An der Treppe sagte ihre Mutter: »Siegfried! Helmtrud! Wotan! Jetzt habt ihr sie gesehen, jetzt kommt nach oben.«
    Ich wünschte, jemand würde ihr die untere Zahnreihe auch noch ausschlagen!
    Die Wranitzky beendete ihre kostbare halbe Stunde in der Küche immer ein paar Minuten früher als notwendig, da ihr die neun Monate zurückliegende Demütigung mit der Uhr noch wie frisch im Nacken saß. Immer noch legte sie Wert darauf zu demonstrieren, dass es damals an ihr nicht gelegen hatte. Wenn Mem um halb sieben in der Tür stand, hatte sie schon zusammengepackt. Die beiden grüßten sich morgens ni e – die Wranitzky hatte Mem ihren Gruß ja schon zugerufen, als diese auf dem Weg zum Klo an der Küche vorbeigekommen war. Es ist unsere halbe Stunde, ihr seid noch nicht dran!
    Ohne dies je so besprochen zu haben, hatte es sich eingespielt, dass wir stumm eintraten und die andere Familie stumm hinausgin g – als ob niemand sonst da wäre und man seine eigene Küche betrat und verließ. Auf diese Weise konnte man sich wenigstens für eine halbe Stunde einbilden, man hätte noch ein normales Zuhause.
    Ooti sah nie hin, wenn Mem mein Bein versorgt e – aus Taktgefühl oder weil ihr mein Gejammer schon reichte, um sich alles vorzustellen. Sie stand mit dem Rücken zu uns vor dem Waschbecken und putzte sich die Zähne; unsere Zahnbürsten wurden anschließend ins Zimmer mitgenommen, damit Bolles und Wranitzkys nicht auf den Gedanken kamen, sie sich auszuborgen. Was wir uns gerne mal ausgeborgt hätten, war Zahnpasta, aber die hatte selbst Frau Kindler nicht.
    »Es passt einfach nicht mehr!«, klagte Mem über mein eigenes Gezeter hinweg. »Zwei Zentimeter zu kurz und der Schaft zu weit, weil sie so dünn geworden ist. Sieh dir deine Haut an, Alice, sieh nur mal hin! Mit Ausstopfen ist es bald nicht mehr getan.«
    Ich kniff nur noch fester die Augen zu. Als ob es irgendetwas besser machte, zu wissen, warum die Prozedur seit Wochen wieder so schmerzte!
    »Wenn wir nicht alle so schön dünn geworden wären, wäre der Schaft längst zu eng und gar nicht mehr zu gebrauchen«, bemerkte Ooti und biss auf dem Griff ihrer Zahnbürste herum, um ihren Kiefer zu kräftigen. »Wie Dr . Kropatscheck zu sagen pflegte: Es hat alles seine zwei Schattenseiten.«
    Ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel und trug einen weiteren legendären Kropatscheck bei: »Alice, dir fehlen jetzt vier Kilo, aber wenn du tüchtig isst, hast du das ganz schnell wieder drauf.«
    Mem und Ooti lachten erleichtert. Kropatscheck-Witze läuteten jeden Morgen das Ende unserer gefürchteten Bein-Prozedur ein, obwohl es alte Witze waren, denn wir hatten den Helgoländer Arzt seit der Evakuierung nicht mehr gesehen. »Lange geht das nicht mehr gut, Alice«, wiederholte Mem eindringlich. »Wenn du wenigstens bereit wärest, nachmittag s …«
    »Ganz bestimmt nicht!«, brauste ich auf. »Lieber such ich mir eine Arbeit. Wenn ich erwerbstätig bin, brauche ich nicht so lange zu warten. Das hat die Fürsorgetante selbst gesagt.«
    Schweigend drehte Mem den Deckel auf das Glas, in dem sich noch ein kleiner Rest Salbe befand, rollte den gebrauchten Verband zusammen und legte ihn beiseite. Meine beiden elastischen Verbände, die ich abwechselnd über dem Bein trug, wusch ich selbst, wenigstens das konnte ich beitragen, aber mein Bein zu massieren brachte ich nicht fertig. Und das hatte nichts damit zu tun, dass ich nicht gelenkig genug gewesen wäre.
    »Damit hat sie aber Erwachsene gemeint«, wandte Henry ein, der nach Ooti das Waschbecken übernahm. »Kriegsbeschädigte Soldaten, die für ihre Familie sorgen müssen. Keine Kinder, die für ein paar Groschen Steine klopfen.«
    »Das ist auch Arbeit«, entgegnete ich sofort.
    Niemand antwortete. Augenblicklich begann meine Kopfhaut zu prickeln; ohne zu überlegen, schob ich Henry beiseite und hängte den Schopf unter den Wasserhahn.
    Mem riss mich heftig unter dem Strahl hervor. »Alice! Wir

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