Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
dem Tisch, auf den ersten Schwung heißes Wasser gewartet hatte. Als ich an der Wranitzky vorbeiging, fing ich den Blick auf, den sie Mem zuwarf, einen kurzen, kalten Blick, aus dem stahlblauer Hass sprach, und obwohl ich in Gedanken bereits auf der Treppe gewesen war, brachte es mich für einen Moment aus der Fassung. Dann bemerkte ich, dass Henry es ebenfalls gesehen hatte, und fühlte mich sicherer, weil wir zu viert waren.
    Manchmal vergaß man für ganze Tage, dass man mit Menschen zusammenlebte, von denen man nichts anderes wusste, als dass sie auch Geheimnisse hatten.
    Hinter Frau Kindlers Zimmertür quakte das Radi o – eine blecherne, spöttische Stimme, die nach Schnupfen klang und deren gewichtiger Tonfall unangenehme Erinnerungen weckte, ohne dass ich hätte sagen können, woran. Wir hätten auch gern ein Radio gehabt, um zu verfolgen, wie es mit der Welt weiterging; stattdessen musste Ooti uns berichten, wenn sie von Frau Kindler zum Tee eingeladen worden war. Manchmal standen Mem, Henry, Sandra, Brigitte und ich heimlich oben im Flur, um zu lauschen. Sandra und ich stellten uns dabei absichtlich auf den Kreidestrich, den der arme Leo anschließend wieder nachziehen musste.
    Heute kam es mir im Flur ganz still vor, obwohl das Radio lief und ich Kindlers hinter ihrer Tür wusste. Im Spiegel sah ich mein Wintergesicht, fahle Wangen und viel zu große Augen. Bevor ich über mein eigenes Gespenst erschrecken konnte, war es weitergehuscht.
    Der wuchtige Spiegel und die abschließbare Kommode, die darunterstand, waren neben der hart umkämpften Wanduhr die einzigen Möbelstücke, die nach dem Einzug der Bolles im Flur verblieben waren. Auch ihre Bilder hatte Frau Kindler abgehängt und sieben helle Flecken als Zeichen ihres Vorwurfs an der Tapete zurückgelassen. Der Läufer war ausgetreten und schmutzig, wofür sie unser aller Anwesenheit verantwortlich machte, obwohl der Läufer hinter dem Kreidestrich komischerweise auch nicht besser aussah.
    Vor dem ehemaligen Herrenzimmer blieb ich stehen, lauschte kurz, hob die Hand, um zu klopfe n … und spürte meinen eigenen, raschen Atem um mich herum wie feinen Nebel. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas, was ich nicht benennen konnte, war anders als sonst, hing unerwartet und rätselhaft in der Luft.
    Was, wenn sie sich umgebracht hatten?
    Hinterher konnte ich selbst nicht erklären, wie ich auf den Gedanken gekommen war. »So etwas sieht man den Leuten doch an!«, behauptete Mem.
    Dagegen war nichts zu sagen. Die Fürstin und ihr Sohn hatten ramponiert gewirkt, aber nicht gebroche n – nicht wie so viele Jammergestalten aus dem Osten, denen man in der Stadt über den Weg lief und auf Schritt und Tritt anmerkte, dass sie, wenn sie gewusst hätten, was vor ihnen lag, ihrem Leben noch in der alten Heimat ein Ende gesetzt hätten. Die Frage stand ihnen geradezu auf der Stirn: Haben wir dafür überlebt?
    Auf der Stirn der Fürstin hatte nichts gestanden. Sie war wütend gewesen, sie hatte Mem herumkommandiert, sie hatte sich über die Einrichtung beschwert. Beschwerte man sich über die Einrichtung eines Raumes, in dem man vorhatte, sich das Leben zu nehme n …?
    Sicher nicht. Äußerst merkwürdig allerdings war, mitten am Tag eine brennende Kerze aufzustellen! Während ich der Radiostimme und meinem eigenen flachen Atem lauschte, erinnerte ich mich plötzlich, was Kerzen noch bedeuten konnte n – für die allermeisten Leute, die nicht von Inseln kamen.
    »Hallo?«, hauchte ich gegen den Rahmen und legte automatisch eine Hand an die Tür, wie wir es im Zivilschutz gelernt hatten. Vor dem Öffnen der Tür prüfen, ob es auf der anderen Seite brennt! Obwohl mir bewusst war, dass mein Tun keinen Sinn ergab, fasste ich Mut, als sich die Tür kühl anfühlte. Mein beherztes Klopfen machte einen so unerwarteten Radau, dass ich erschrocken einen Schritt zurücktrat. Aber niemand antwortete.
    Es kostete mich einige Überwindung, durchs Schlüsselloch zu sehen. Das Licht brannte, die Fürstin und ihr Sohn hatten also keineswegs vergessen, die Schalter umzulegen.
    »Hallo? Wir haben Strom! Wenn Sie in die Küche kommen wolle n …?«
    Im sanduhrförmigen Ausschnitt des Schlüssellochs erkannte ich den Spieltisch, der Herrn Kindler senior gehört hatte, und den Umhang der Fürstin, der achtlos darübergeworfen lag. Die beiden mussten auf der anderen Seite des Zimmers sein, wo sich die Sitzgruppe befand.
    »Hallo? Haben Sie etwas zu essen, das Sie wärmen möchten?«
    Ich

Weitere Kostenlose Bücher