Unterland
wir uns unser Leben lang.
4
Nachts hörte man von Ooti keinen Laut. Nachdem wir uns gute Nacht gewünscht hatten, kam nur wenige Minuten später als Erstes das Zähneknirschen meiner Mutter, kurz darauf das trockene Knarzen rostiger Sprungfedern, wenn Henry vergeblich versuchte, sich aus der Kuhle der durchgelegenen Matratze zu rollen, die er mit Mem teilte. Knack machte die Zimmerdecke bei jedem Schritt, den Frau Kindler aufgebracht auf und ab lief, bis irgendwann das Scharren des Nachttopfs auf dem Fußboden verriet, dass sie Vorbereitungen traf, zu Bett zu gehen. Und sobald die kleinen Wranitzkys anfingen zu heulen, wusste ich, dass nun auch ihre Mutter ihr Hindenburglicht ausgeblasen hatte, es also kurz vor halb elf sein musste.
Das gehuschte Tapptapp im Flur und auf der Treppe gehörte zur Stunde vor Mitternacht, gefolgt vom Rauschen der Klospülung. Bolles gaben sich die Klinke in die Hand, dreimal, viermal, als unternähmen sie einen verzweifelten Versuch, sich Stück für Stück selbst wegzuspülen, bevor die Geister, die schon in den Ecken warteten, freie Bahn gewannen.
Doch von Ooti kein Mucks. Fast jede Nacht setzte ich mich auf, beugte mich zu ihr hinüber und hielt ihr die Hand unter Mund und Nase, um zu prüfen, ob sie sich etwa heimlich davongestohlen hatte. Das war oft um die Zeit, wenn Henry am Fenster stand und ich war sicher, dass er auch mir zusah, aber wir redeten nicht darüber, was wir im Dunkeln beobachteten.
Insbesondere redeten wir nie über Bolles. Nicht einmal die Wranitzky sagte etwas, obwohl sie als Einzige vielleicht sogar Bescheid wusste. Mamaaaaa! Bittebittebitte! Heiniiiii! Heiniiiii! Jede Nacht drang das heisere Heulen und Stammeln aus ihrem Zimmer, ein Betteln und Flehen in Stimmen, die nichts mit denen gemein hatten, die wir kannten. Seitdem weiß ich, dass es Geister gibt, und dass sie sich bevorzugt in stillen Menschen verstecken. Die Geister der Bolles verstummten erst, wenn Frau Kindler ihren Nachttopf auf den Fußboden hämmerte. Mit einem so angriffslustigen Körper konnten sie nichts anfange n – für mich nur ein weiterer Beleg für ihre Existenz.
Meine eigenen Geister waren Moortje, mein Hund, und die Marinehelfer, die am letzten Tag ihres Lebens noch in Mems Laden gewesen waren. Drops und Lakritze und ein, zwei Postkarten, die nie geschrieben werden würden. Wir standen rechts und links auf unseren Holzbänken, als sie im Laufschritt durch den Stollen getragen wurden, und schauten ihnen ins Gesicht. Wenn ich aufwachte, war ich starr wie ein Stück Holz, jeder Muskel tat weh und der Schrei, der damals nicht aus mir herauskonnte, steckte mir immer noch faustgroß im Hals.
Wim Wollank und seine Mutter trugen kein einziges Geräusch bei, das etwas über sie hätte verraten können.
Um halb sieben, direkt nach den Wranitzkys, begann unsere morgendliche halbe Stunde in der Küche, in der wir uns sowohl wuschen als auch frühstückten. »Alice, beeil dich doch!«, hörte ich Mem durchs ganze Haus rufen. Toll! Nun wusste wieder jeder, wie knapp die Zeit für uns bemessen war, da Mem zusätzlich mein Bein versorgen musste.
Mit zusammengebissenen Zähnen griff ich nach meinen Krücken. Meinetwegen hatten wir unser Zimmer im Erdgeschoss, während der Rest der Hausgemeinschaft oben wohnte; trotzdem konnte mich morgens auf meinem Weg in die Küche jeder sehen, der gerade zum Klo ging oder herauskam. Ganz abgesehen von denen, die absichtlich dort herumstanden, um nicht zu verpassen, wie jemand mit seinem Bein unter dem Arm herumlief.
Henry saß, wie immer um diese Zeit, bereits angezogen unter der Decke und war in die Geheimnisse seines Schreibhefts vertieft. »Meinst du, er kommt heute schon mit zur Schule?«
Ich trödelte noch ein wenig herum, da ich im Flur die kleinen Wranitzkys gehört hatte. Henry ließ sein Heft sinken. »Ich möchte wissen, was er da gelesen ha t … und ob er es verleiht.«
»Er muss wenigstens mitkommen, um sich für die Schulspeisung untersuchen zu lassen.« Ich lauschte in den Flur. »Meinst du, Graber teilt ihn vormittags mit uns zum Unterricht ein, wo wir doch jetzt alle aus demselben Haus kommen?«
»Sag einfach, du willst nicht mit dem da in eine Klasse«, riet Henry. »Dann teilt Graber ihn garantiert mit uns zusammen ein.«
Obwohl ich noch immer nicht wusste, was er mit den Tommys zu schaffen gehabt hatte, war ich froh, dass wir wieder miteinander sprachen. Es fiel mir nicht besonders schwer, so zu tun, als ob gar nichts zwischen uns
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