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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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begann zu wünschen, das Radio würde endlich verstummen. »Göring ist in seinem Element«, übernahm die bekannte Stimme des BBC-Reporters und löste immerhin das Rätsel, wen ich gerade gehört hatte. »Nach den langen peinigenden Monaten des Zuhörens und Schweigens kostet er jede Minute aus, die ihm zum Reden gegeben ist. Man erkennt, dass er das Nürnberger Gericht auch als Forum der Weltöffentlichkeit betrachte t …«
    »Brauchen Sie Waschwasser? Sie können einen Topf von uns leihen!«
    Das war nicht abgesprochen; wir besaßen selbst nur einen einzigen Topf, um zu kochen, und das Waschwasser für uns vier zu erwärmen. Aber ich war sicher, dass Mem nichts dagegen haben würd e – und sei es nur, um die Wranitzky herauszufordern.
    »Wenn Sie erst um halb acht runterkommen, ist der Strom vielleicht wieder aus!«
    Es war zwecklos, im Zimmer blieb es still. Unter Aufbietung all meinen Mutes drückte ich die Klinke herunter. Nur ein einziger Blick! Eine Tür kann man sofort wieder zuknallen, wen n …
    Aber die Klinke bewegte sich nicht. Sie hatten eine Stuhllehne daruntergeklemmt.
    Treppab entzündete sich eine ganze Handvoll Streichhölzer, als mein Gewicht das linke Bein in den Schaft der Prothese schraubte, doch ein anderes Gefühl war noch stärker: Trauer, Enttäuschung, Überraschung. Ich hatte mit den beiden gerechnet! Ein bisschen Wut, dass sie mich alleinließen, noch bevor wir uns überhaupt kennengelernt hatten.
    Die bange Frage, was nun passieren würde, und ob es meine Schuld war. Hätte ich die Kerze gleich verstehen müssen? Aber auch Ooti und Henry hatten sie gesehen, als sie ins Haus kamen, und keinen Verdacht geschöpft.
    Hoffnung: Vielleicht war es nicht zu spät! Wenn sie Gift genommen hatten, konnten sie noch am Leben sein. Aber war es ein Gift, von dem man erblindete, wenn man gerettet wurde? Würden sie das wollen?
    Die Frage, wie ich es den anderen beibringen sollt e – doch da war ich bereits in der Küche. »Sie sind tot«, brach es aus mir heraus und ich hatte das Gefühl, jetzt weinen zu müssen, aber es gelang mir nicht. Als wäre schon wieder alles egal.
    Die Toten, die man in den Tagen danach auf unserer Insel geborgen hatte, waren in Tücher gewickelt, mit Booten aufs Meer gebracht und mit Ziegelsteinen beschwert an einer Stelle ins Wasser geworfen worden, von der man wusste, dass die Flut sie nicht wieder an Land spülen würde. Da der Pfarrer wie alle Zivilisten evakuiert worden war, fuhr Dr . Kropatscheck mit hinaus, der bis zum letzten Tag auf der Insel blieb, um die Verwundeten zu betreuen, die in seinem Felsenlazarett lagen.
    Was würde hier geschehen? Wer kümmerte sich um die, die ohne Angehörige verstarben? Wieder musste ich an den Mann denken, den wir tags zuvor am Straßenrand hatten liegen sehen, und bei dem Gedanken, dass die Fürstin und ihr Sohn vielleicht im selben Armengrab bestattet werden würden wie er, überfiel mich solche Traurigkeit, dass meine Arme schwer wurden und ich nur noch reglos und müde zusehen konnte.
    Mit einem dumpfen »Tock« schlug die oberste Holzsprosse gegen den Rahmen des Fensters über der Küche. Der arme Leo prüfte sorgfältig die Standfestigkeit der mit Farbklecksen bespritzten Leiter, die er aus dem Keller heraufgeschleppt hatte, und begann den Aufstieg. Schräg über ihm hing seine Mutter aus ihrem eigenen Fenster und schimpfte: »Von drüben kann dich jeder sehen, Dummkopf! Kannst du dir das leisten?«
    »Wir sind in unserem eigenen Garten, Mutter«, erwiderte der arme Leo, aber es war nicht zu übersehen, welche Überwindung es ihn kostete, nach jedem Schritt eine Hand von den Stufen zu lösen. Wie wir alle fürchtete er den Anblick, der ihn hinter dem Fenstersims erwartete. Noch nie hatte ich jemanden langsamer eine Leiter hochsteigen sehen. Heftige Atempuffs durchstießen die Nachtluft; wenn man den Kopf schräg legte, meinte man, eine Dampflok krieche die Hauswand hinauf.
    Selbstverständlich hatte Herr Kindler nicht gleich die Leiter geholt, sondern es zunächst selbst mit »Hallo, hallo?« am Schlüsselloch versucht. »Ich fürchte«, sagte er bang, als er danach an der Treppe auftauchte und auf unsere beklommene Schar hinunterblickte, »die Kleine könnte Recht haben.«
    Die Wranitzky war daraufhin gleich wieder in die Küche geeilt, zum Strom, und hatte über die Schulter zurückgeworfen: »Wir zwei haben genug Tote gesehen, stimmt’s, Frau Bolle?«
    Worauf Frau Bolle, die ihr schon einen Schritt gefolgt war, es sich

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