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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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zwar, das bildete ich mir ein, in Wahrheit stecke nichts als das abgelegte Sommerkleid einer Offiziersgattin dahinter, das Mem geerbt hatte. Das Kleid hatte Blümchen und Rüschen und Mem bewegte sich darin, als setze sie zu einem Cha-Cha an, aber wenn mein Bruder ernsthaft glaubte, ein simples Kleidungsstück sei zu einer durchschlagenden Wesensveränderung imstande, wie ich sie an Mem zu beobachten begann, dann musste er uns Frauen für ziemlich schlichte Geschöpfe halten.
    Nicht dass ich meiner Mutter ihre gute Laune missgönnte: Unsere Hamburger Situation war erträglicher geworden, weniger Sorgen nagten an ihr, ihr hartnäckig beschworenes Halb-so-schlimm wurde endlich wahr! Aber Mems Munterkeit kam mir eine Spur zu groß vor angesichts der Tatsache, dass unsere Ausgangslage selbst sich in keiner Weise verbessert hatte: Wir warteten immer noch auf Foor, wir saßen immer noch in Hamburg fest, und um den Namen Helgoland noch irgendwo aufzuschnappen, musste man die Ohren inzwischen ausklappen wie ein Elefant.
    Mems Benehme n – an diesem Eingeständnis führte kein Weg vorbe i – war mir nicht geheuer. Plante sie eine Überraschung für uns? Hatte sie eine Nachricht erhalten, von der wir nichts wussten? Konnte es sein, dass Foor selbst die Überraschung war und seine Rückkehr unmittelbar bevorstand? Würde es ihr wirklich gelingen, so etwas für sich zu behalten?
    Meine zweite Überlegung, die mir wahrscheinlicher erschien, war, dass sie mithilfe der Tommys eine größere Wohnung für uns gefunden hatte, und seitdem fand ich mich hin und her gerissen zwischen der Vorfreude auf mehr Platz und der inneren Wappnung gegen die Trennung von Wollanks. Wenn Mem damit herausrückte, nahm ich mir vor, durfte ich keineswegs enttäuscht wirken! Eigentlich war es sogar das Beste, dass ich abends nicht mehr nach oben ging. So würde mir ein Umzug weniger schwerfallen.
    Ob wir wenigstens in Hamburg bliebe n …? Die Vorstellung, vor der Rückkehr nach Helgoland vielleicht noch woandershin zu müssen, gefiel mir gar nicht. Wim und Nora, der Schwarzmarkt, unser Garte n … selbst die Aussicht, Graber loszuwerden, würde den Verlust nicht aufwiegen.
    Nur eins würde mir gewiss nicht fehlen: der abendliche Tobsuchtsanfall von Frau Kindler.
    »Dein Leben lang wohnst du in dieser Stadt«, brüllte sie den armen Leo an, »und hast nicht einen Einzigen, der dir einen Persilschein ausstellt?«
    Sein Verfahren vor der Spruchkammer rückte näher und dieser gutmütigste Mann, den wir kannten, hatte Schwierigkeiten, seine Harmlosigkeit nachzuweisen. Ob die »Persilscheine«, eine Art Ehrenerklärung, überhaupt etwas nützten, war umstritten, aber jeder Belastete, der vor die Spruchkammer geladen wurde, verfiel schon Monate vorher in hektische Betriebsamkeit und machte für untadelig erklärte Freunde, Bekannte und frühere Geschäftspartner ausfindig, um sie um diesen Gefallen zu bitten. Vor allem aus Lager oder Exil zurückgekehrte Juden konnten sich kaum retten vor solchen Anfragen; zweifellos überrascht erfuhren sie, wie viele Nachbarn insgeheim schon immer auf ihrer Seite gestanden hatten und ihre Anständigkeit nun bescheinigt haben wollten.
    »Die Ingeborg macht’s jedenfalls nicht!«, schrie der arme Leo zurück. »So wie du sie behandelt hast!«
    »Denk nach, du Idiot! Du wirst doch noch irgendjemanden kennen außer der Ingeborg!«
    »Meine Freunde«, rief er mit überschnappender Stimme, »sind alle gefallen!«
    Mitfühlend starrten wir an die Decke, aber helfen konnten wir ihm nicht, Hilfe kam von anderer Stelle. Eines Abends überschritt Wim kurzerhand den Kreidestrich und klopfte an Frau Kindlers Tür: »Persilscheine kann man kaufen. Aber das kostet. Sagen Sie mir Bescheid.«
    Er drehte sich um und ging, und keine zehn Sekunden später hörte man ein Klopfen an der Tür der Wollanks. »Was«, fragte der arme Leo, »kostet es denn?«
    »Wenn Sie mir zwei Tage Zeit geben, finde ich es heraus«, versprach Wim.
    Seitdem lief der arme Leo mit deutlich fröhlicherem Gesicht herum und im Zimmer seiner Mutter war es abends fast ganz still.
    »Man müsste mir einen Orden verleihen«, fand Wim. »Ich habe vielleicht einen Mord verhinder t – und damit meine ich ihn, nicht sie. Memmen sind unberechenbar, sage ich dir, die können durchdrehen wie kein anderer! An der Front hüten sich alle vor den Memmen, hat mein Vater mal gesagt.«
    Wir waren auf dem Rückweg vom Schwarzmarkt, ein paar Büchsen Ölsardinen im Beutel und das Geld,

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