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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Bank vorbeigingen. Wie kam er hierher? Eben erst war er verhaftet worden! Täuschte ich mich oder senkte er beschämt den Kopf, als wir ihn anstarrten?
    Eine Viertelstunde später ging mein Bruder noch einmal zurück, da der Mann ihm keine Ruhe ließ, aber dieser war verschwunden. »Der ist einfach aufgestanden und gegangen«, sagte die Frau, die jetzt dort saß.
    Als Henry zu uns zurückkam, hatte er seinen Plan schon gefasst. Jetzt, mehr als ein Jahr später, hatte er den Namen. Aber was sollten wir damit anfangen? Im Sommer 1946 gab es viel zu viele Namen, zu denen niemand mehr gehörte, die an Litfaßsäulen verwitterten, vom Suchdienst in Ordnern abgelegt und vom Radio ins Leere gerufen wurden.
    »Wenn ich nur wüsste, wo und mit wem ich ihn schon einmal gesehen hatte«, grübelte mein Bruder. »Dann könnten wir versuchen, ihn über denjenigen zu finden.«
    »Aha. Und wie willst du das anstellen?«
    Henry lächelte. »Schon vergessen? Ich habe doch die Adressenliste von James.«

12

    Ich hatte zu wissen geglaubt, wie Nora zumute sein würde, wenn sie nach zwei Monaten Haft in den Kiekebuschweg zurückkehrte, war ich doch selbst erst vor Kurzem ans Haus gefesselt gewesen, abgeschnitten von all den Veränderungen, die draußen vor sich gingen. Aber als sie wiederkam, merkte ich, dass ich mich geirrt hatte. Ihr nachgewachsenes blondes Haar konnte nur auf den ersten Blick darüber hinwegtäuschen, dass etwas viel Verstörenderes mit ihr geschehen sein musste. Sie wirkte blass, fast durchsichtig, ihre Augen waren unruhig und wachsam. Die kühne, selbstsichere Nora, die sich mit Mem angelegt und einen Polizisten geohrfeigt hatte, war nicht dieselbe, die zu uns zurückkam.
    »Die berappelt sich schon wieder«, behauptete Mem später im Zimmer, aber ich konnte ihr ansehen, dass sie betroffen war. Die Aussicht auf Noras bevorstehende Rückkehr war für meine Mutter, obwohl sie dies nie zugegeben hätte, alles andere als ein Grund zur Vorfreude gewesen; nun hatte ich das Gefühl, dass sie die hochfahrende »Dame Wollank« schon fast zu vermissen begann.
    »Es war uns eine Freude, Wim in die Familie aufzunehmen«, hatte Mem förmlich zu ihr gesagt, »wenn Sie beide möchten, können wir die zusammengelegten Küchenzeiten gern weiterführen. Wim hat uns ja auch im Garten unterstützt, wodurch Sie gewissermaßen Anrechte erworben haben, und seinen Teil zur Versorgung beigetragen.«
    Nora antwortete nicht.
    »Ich will damit sagen, es war von unserer Seite aus nicht nur ein Geben«, gestand Mem, aber selbst das entlockte Wims Mutter nicht mehr als ein Nicken.
    »Wissen Sie was, Frau Wollank«, übernahm Ooti, »kommen Sie erst mal an. Essen Sie die nächsten Tage mit uns, erholen Sie sich, und dann reden wir weiter. Einverstanden?«
    Nora lächelte. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Sie sind sehr freundlich und ich danke Ihnen. Aber ich glaube, mein Kopf ist wirklich noch nicht ganz da.«
    »Wollen wir ein bisschen spazieren gehen, Mutter?«, fragte Wim und ich erschrak; nie hatte er sie in meinem Beisein Mutter genannt. Hieß das, er nahm einfach so hin, dass »Lou« Vergangenheit war?
    »Ob sie ihr im Gefängnis etwas getan haben?«, flüsterte ich, als wir die beiden am Fenster vorbeigehen sahen.
    »Ich kann’s mir nicht vorstellen«, erwiderte Mem leise. »Aber es müssen schreckliche Dinge passiert sein drüben im Osten, da braucht es nicht viel, um das alles wieder wachzurufen. Ich würde vorschlagen«, setzte sie hinzu, »du lässt die beiden die nächsten Tage in Ruhe, damit sie sich wieder aneinander gewöhnen können.«
    Zwischen Einsicht und Enttäuschung schwankend, sah ich ein, dass sie Recht hatte. Nach dem Abendessen wie gewohnt an Wollanks Zimmertür zu klopfen, wäre auch mir unpassend erschienen, solange Nora noch nicht wieder sie selbst war. Allerdings nahm ich an, dass es sich nur um einen Aufschub von wenigen Tagen handelte, und war umso trauriger, als der Kerzenständer, um den Wim sich ohnehin nicht mehr gekümmert hatte, nach Noras Rückkehr komplett vom Fensterbrett verschwand.
    Es schien mir wie ein Zeichen: Mit meinen Abenden bei Wollanks war es vorbei. Sie empfingen nicht mehr.
    Meine Mutter wirkte lebhafte r – vielleicht bedurfte es der Rückkehr der veränderten Nora, um mir die Augen zu öffnen. Mems Gesicht war voller geworden, dem guten Tommy-Essen sei Dank, ihre Haut frisch und leicht gebräunt, hinter dem vertrauten Klang ihrer Stimme schwang etwas, was ich nicht erkannte. Henry meinte

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