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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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daraus ging hervor, dass es heute passieren sollte!«
    »Einen der Offiziere müssen sie direkt vom Funkgerät weggeholt haben, der hat den Engländern noch Meldung gemacht, dass der Plan aufgeflogen ist und sie angreifen sollen.«
    »Um Himmels willen, warum sollte er das tun?«
    Wohin man auch blickte: bleiche, besorgte Gesichter. Mechanisch füllten Henry und ich Bonbons in Tüten, niemand nahm von uns Notiz.
    »Aber das wäre doch das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollten!«
    »Ja, die wollten uns retten! Warum sollte einer von ihnen uns ausliefern?«
    »Vielleicht, um sich und die anderen vor dem Standgericht zu bewahren.«
    Augenblicklich wurde es totenstill. Als fragte sich jeder im Laden, ob er oder sie das fertigbringen würde: die Insel zu opfern, um die eigene Haut zu retten.
    »Oh Gott, sie werden sie aufhängen!« Mem war plötzlich den Tränen nahe. »Der liebe, gute Erk Fink.«
    Drei Stunden später hörten wir die Sirenen und das mulmige Gefühl, das mich schon den ganzen Morgen über nicht verlassen hatte, verwandelte sich augenblicklich in Bauchschmerzen, obwohl wir doch ständig Alarm erlebten. Helgoland und die Deutsche Bucht wurden überflogen, wann immer Bomber auf dem Weg in irgendeine unglückliche deutsche Stadt waren; jeden Tag mussten wir in die Bunker, manchmal mehrmals. Einige Insulaner kamen schon gar nicht mehr mit, weil sie nicht mehr daran glaubten, dass uns etwas geschehen würde.
    Auch Mem war nervöser als sonst. »Alice, du kannst im Bunker aufs Klo!«, rief sie und hämmerte von außen gegen die Badezimmertür.
    Mit weichen Knien kam ich heraus. »Ich möchte Moortje mitnehmen«, flüsterte ich.
    »Du weißt, dass das nicht gestattet ist. Komm, Schatz, ihm wird schon nichts passieren. Wir lassen die Haustür auf, dann kann er raus und rein oder auch in den Keller, wenn er will.«
    Moortje war daran gewohnt, bei Alarm zurückzubleiben; er saß angespannt und mit hängender Zunge auf seiner Decke im Flur, als wir gingen, machte aber keine Anstalten, uns zu folgen. Ich öffnete die Haustür ganz weit und legte vorsichtshalber einen Ziegelstein aus dem Vorgarten zwischen Pfosten und Tür.
    Auf dem Weg zum Bunker kamen uns Grofoor Krüss und seine Schwiegertochter Lissy entgegen: Er hatte frische Schollen, sie hatte Milch fürs Baby auf dem Herd und der Luftschutzwart hatte ihnen noch einige Minuten gewährt, damit das Mittagessen nicht verdarb. Wir winkten und die beiden gingen schnell, aber ohne Angst weiter.
    Wir waren noch nicht am Bunkereingang angekommen, als ein lautes, tiefes Dröhnen die Luft, den Boden, sämtliche Gebäude um uns herum zum Vibrieren brachte. Mein Blick flog nach oben, aber nichts war zu erkennen, das Dröhnen der Flugzeuge kam von überall, und gleich darauf das Zischen hochschießender Fontänen, als erste Bomben ins Wasser fielen. Auf der Straße begannen selbst Leute zu rennen, die sonst nie in den Bunker mitkamen.
    Im Eingang atmeten alle auf. Über zwei Treppen, die jeden Ansturm mühelos bewältigten, ging es tief in den Fels hinein und niemandem, der es bis hierher geschafft hatte, konnte noch etwas geschehen, sobald die schweren Bunkertüren geschlossen waren. Fast dreißig Kilometer Stollen waren kreuz und quer in den Felsen gebohrt und gesprengt worden: Teile des Marinestützpunkts, Versorgungslager, ein komplettes Lazarett und Räume für Mütter mit kleinen Kindern. Die unterirdische Stadt war um viele Male größer als die Ortschaft zwischen den Klippen; mehr als viertausend Menschen fanden damals auf unserer kleinen Insel Platz.
    Wir hielten uns am Rand der Treppe, um niemanden zu behindern, da ich nur langsam vorankam. Alles lief ruhig und ohne Panik ab. Mem meinte: »Wenn Grofoor Krüss und Lissy sich nur beeile n …!«
    Wir sahen die beiden nie wieder. Nicht Onkel Richard und Onkel Andreas, Freunde von Foor, die in den Trümmern des einstürzenden Leuchtturms starben, nicht die jungen Marinehelfer, die die Flak bedienten. Ihre Kanonen verstummten eine nach der anderen, schon nach wenigen Minuten hörte man kein Helgoländer Geschütz mehr. Da waren nur noch die Detonationen der Sprengbomben, die auf die Straßen und Häuser über unseren Köpfen regneten, und das Geräusch herabstürzender Felsbrocken.
    Ich fand mich auf der Bank stehend und blickte Sterbenden und Toten ins Gesicht, die auf Brettern und Türen durch den schmalen Gang getragen wurden. Ein Klagen und Schluchzen der Frauen weiter vorn im Stollen kündigte an, dass

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