Unterland
Gesichter darunter waren, die wir kannten. Einige Male kam der Name schon vor dem Toten bei uns an.
Die Felswände bebten, die Eingangstüren des Bunkers flogen auf, Staub und Mörtel fegten wie ein Sturm durch den Gang. Das Licht fiel aus, unzählbare Minuten in tiefschwarzer Hölle, bis endlich einige Notlichter angingen. Kinder kreischten und übergaben sich, Frauen knieten im Gang und beteten, andere versuchten in Panik unter die Sitzbänke zu kriechen, obwohl zwischen dem Gepäck, das dort stand, nicht der kleinste Zentimeter Platz war.
Hinterher mochte ich kaum glauben, dass der erste Angriff nur zwei Stunden gedauert hatte; es kam mir vor, als hätte ich Tag und Nacht auf meiner Bank im Fuchsbau gekauert oder gestanden. Eine jähe, fast unwirkliche Ruhe kehrte ein, unterbrochen von dem einen oder anderen Schluchzen. Einige standen mit wackligen Beinen auf und gingen nach vorn, die wenigsten wohl in der Hoffnung, dass ihr Haus noch stand, sondern um frische Luft zu schöpfen. Die Hitze im Stollen und der Gestank nach Schweiß, Urin und Erbrochenem war unerträglich. Über Lautsprecher kam die Durchsage, Plünderungen würden mit dem Tode bestraft.
Henry wandte mir sein bleiches Gesicht zu. »Ob er überlebt hat?«
»Moortje?«, fragte ich und wischte mir die Tränen ab. Henrys Gesicht glänzte, die Haare klebten ihm an der Stirn wie eine Matte aus nassem Gras.
»Der Verräter. Heute Morgen. Schon vergessen?«
»Du spinnst wohl!«, platzte ich heraus. »Was interessiert mich dieser Kerl?«
»Ich hoffe, er ist in Fetzen geflogen«, sagte Henry mit verzerrtem Gesicht.
Unsere Banknachbarin kam schon wieder zurück und setzte sich kreidebleich neben uns. »Alles dahin, alles dahin«, wiederholte sie ein ums andere Mal, als wäre ihr Gehirn nur noch in der Lage, diese zwei Wörter zu senden.
Dennoch war ich nicht auf den Anblick gefasst, der sich uns bot, als wir den Bunker verließen. Wir betraten eine fremde Welt. Keine Spur mehr von uns. Wo Straßen gewesen waren, klafften Krater, wo Häuser gestanden hatten, lagen Steine, Scherben, Holz, verbogene Eisenstäbe und Möbelfetzen in immer gleichen Trümmerhaufen, als wären Riesen darübergetrampelt.
Der Kirchturm von St . Nikolai stand noch, das Einzige, was wir erkannten, und wir kletterten blind darauf zu, vorbei an Toten, die unter Decken neben dem Bunkereingang lagen. Der Friedhof war ein Acker; Grabsteine, Sargdeckel und Knochen umgepflügt und verstreut. Auf dem Weg durchs Nirgendwo stach hier und dort eine Mauer hervor, die einem bestimmten Haus zuzuordnen war; wie ein angebrochener Strohballen hingen die Überreste des zerfetzten Daches von dem Gebäude, das unsere Schule gewesen war.
In den letzten beiden Jahren hatten wir mehrere Angriffe erlebt, die vor allem das Unterland schwer getroffen hatten, aber diesmal waren nicht bloß Bomben, diesmal war ein Sturm über uns hinweggefegt. Mit Stürmen muss man rechnen auf einer Hochseeinsel, man holt die Boote herein, bindet die Fensterläden fest, packt das gute Geschirr in die Truhe und lässt niemanden aus dem Haus, solange der Wind an Dächern und Türen rüttelt. Aber ich hatte nicht gewusst, dass auch Menschen solche Stürme entfachen können.
Das erste Wunder war, dass dieser brüllende, alles verschlingende Sturm einige wenige Häuser verschont hatte und dass unseres darunter war, zumindest beinahe. Die ganze rechte Haushälfte mitsamt dem großen Kamin stand noch und ich fasste augenblicklich Mut. Mit zitternder Stimme rief ich Moortjes Namen in den Win d – und bekam Antwort.
Zwei Wunder in wenigen Minuten. Ich hätte wissen müssen, dass solches Glück nicht hält. Nicht an einem Tag, an dem fünfzehnjährige Jungen mitsamt der Klippe, von der sie ihre Flugabwehrkanonen bedienten, ins Meer gesprengt wurden.
Als wir in den Bunker zurückkehrten, weil es kein Zuhause mehr gab, war ich wie betäubt von meinem vergeblichen Schreien, Flehen und Betteln; wenn jemand eine Pistole auf mich gerichtet hätte, wäre es mir egal gewesen, vielleicht sogar barmherzig erschienen nach dem, was ich nicht hatte verhindern können. Ich erinnere mich, dass ich nach Henry schlug, als er mich plötzlich am Arm packte und sagte: »Da ist er.«
Was kümmerte mich irgendein Mann, dessen Verhaftung wir am Morgen beobachtet hatten?
Doch obwohl ich nur flüchtig und unter Tränen hinschaute, prägte sein Gesicht sich mir ein, und das Zucken der Augenbraue, das nicht zu übersehen war, als wir so dicht an seiner
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