Unterm Kirschbaum
sie wusste, dass Schulz unfähig war, sie loszulassen. Er betrachtete sie wie ein wertvolles Gemälde, das er bei einer Auktion erworben hatte, und einen Van Gogh verschenkte man nicht. Sie kannte ihren Mann nur zu genau.
Siegfried Schulz handelte mit Schrott und Gebrauchtwagen und hatte einiges Geld in Bars und Bordelle investiert. Obwohl er inzwischen schon 49 Jahre alt geworden war, hatte er sich immer noch nicht zwischen den Rollen seriöser Geschäftsmann, Playboy und Mafiapate entscheiden können. Er war ein ausgesprochener Sadist, nicht im sexuellen Sinne, sondern im sozialen, das heißt, er genoss es, andere Menschen zu demütigen und zu unterdrücken, und wenn man ihn mit der Bezeichnung ›Kotzbrocken‹ belegte und einen ›fürchterlichen Zyniker‹ nannte, dann freute ihn nichts mehr als dies. Nicht einmal seine Hündin liebte ihn, und dennoch war er von schönen Frauen und amüsanten Freunden umgeben, denn er hatte Geld, lud pausenlos zu den wildesten Partys ein und vergab zinslose Kredite, mit denen er andere von sich abhängig machte.
Sie wohnten in einer stattlichen Villa in Wannsee. Die Straße trug den Namen ›Am Sandwerder‹ und hatte es verstanden, sich vor dem Plebs gut zu verstecken, obwohl viele in der Stadt sie kannten, denn an ihrem südlichen Ende lag das LCB , das Literarische Colloquium Berlin.
»Hier willst du weg?«, fragte Sandras Freundin Ramona. »Und mit diesem Fußballer zusammenziehen?«
»Der ist sauber, der ist ehrlich. Und beide haben wir als Straßenkinder angefangen, das verbindet. Im Jugendknast ist er auch gewesen.« Sandra rang die Hände. »Ich kann’s ja auch nicht verstehen, aber es ist so, wie es ist. Ich bin darauf programmiert, was soll ich machen?«
»Weiß Schulz schon von Karsten?« Ramona fand den Vornamen Siegfried so entsetzlich, dass sie ihn nicht über die Lippen brachte.
Sandra zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Bis jetzt haben wir es sehr geschickt angestellt, und wenn ich auf Reisen war, ist er immer in dieselbe Stadt gekommen. Aber Siegfried hat ja überall seine Leute sitzen …«
»Ich habe Angst um dich«, sagte Ramona. »Er wird dich eher umbringen, als dass er dich gehen lässt.«
Sandra winkte ab. »Wenn er mich lieben würde, ja, aber so …«
»Das ist doch viel schlimmer bei ihm: Für ihn ist das Fahnenflucht, was du begehst, Hochverrat, und in diesem Falle wird man auf der Stelle standrechtlich erschossen.«
Sandra lachte. »In deinen Drehbüchern, aber nicht im wirklichen Leben.«
»Ein bisschen was verstehe ich davon, von Psychologie und Psychiatrie, und Schulz ist der geborene Affekttäter, glaub es mir.«
Die Worte der besten Freundin blieben nicht ohne Wirkung auf Sandra, und ein wenig kleinlaut fragte sie, was sie tun solle. »Weglaufen und mich vor Siegfried verstecken?«
»Ja.«
»Ich denk mal drüber nach«, versprach ihr Sandra.
»Bitte bevor es zu spät ist!«
Ramona musste zu einer Drehbuchbesprechung und verabschiedete sich mit ein paar belanglosen Worten.
*
Karsten Klütz hatte Sandra in den letzten drei Wochen wenig gesehen, denn sie war voll damit beschäftigt, Kostüme für den dritten Karneval der Kulturen zu nähen. Am Freitag vor Pfingsten sollte es losgehen. Ihm selber wären vorbeimarschierende Militärkapellen lieber gewesen, aber wenn ihm Sandra gesagt hätte, er solle sich am Christopher Street Day als Schwuler verkleiden und in Lederkleidung auf einem der Wagen mitfahren, hätte er auch das getan. Seine Freunde lästerten: Wo die Liebe hinfällt … Ja, es hatte ihn mächtig erwischt. Immer wieder sang er mit Jürgen Marcus: ›Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.‹
Sie hatten sich auf dem Boxhagener Platz verabredet, wo der erste Friedrichshainer Ökomarkt eröffnet werden sollte. Er spottete immer, dass Sandra vor lauter Begeisterung einen Orgasmus kriegen würde, wenn sie Gemüse und Milchprodukte aus biologischem Anbau kaufen und Kaffee aus ›fairem‹ Handel trinken konnte.
Die Gegend zwischen der Frankfurter Allee im Norden und den S-Bahnhöfen Warschauer Straße und Ostkreuz im Süden war Klütz so fremd, dass er das Gefühl hatte, in einer anderen Stadt zu sein. Eigentlich kannte er Berlin ganz gut, aber das betraf nur die Gebiete, in denen es Fußballstadien und Sportplätze gab oder wenigstens Vereine, die irgendwann einmal in den oberen Ligen aufgetaucht waren. Seine Lehrer hatten ihn früher immer gefragt: ›Hast du denn nichts anderes als Fußball im
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