Unterm Kirschbaum
Frage, ob er wirklich zu seinem Neffen nach Frohnau fahren und dort übernachten sollte oder lieber nicht, tat er sich schwer. Denn es war zu befürchten, dass Sandra die Chance nutzen und dieses Arschloch von Klütz zu sich nach Hause holen würde. Der Gedanke, dass sie es in seinem Bett miteinander trieben, war unerträglich für ihn. Wenn die Zeiten anders gewesen wären, hätte er Sandra einen Keuschheitsgürtel umgeschnallt. Aber der hätte sie auch nicht daran gehindert, ihm einen zu blasen.
Sandra selbst war es, die zur Problemlösung beitrug, als sie ihn anrief und ihm sagte, sie müsse Donnerstagmorgen für ein paar Tage nach Mailand fliegen, weil ihr ein dortiger Modemacher einen Kooperationsvertrag angeboten habe und sie sich eine solche Chance nicht entgehen lassen könne.
»Mailand, sehr schön, da komme ich gern mit!«, rief Schulz, obwohl er nicht im Traum daran dachte, nach Italien zu fliegen. »Da gibt es bestimmt ein Spiel mit Inter oder dem AC .«
»Ich fahre allein mit meinem Team.«
Fast hätte Schulz gefragt, ob auch Klütz zu ihrem Team gehöre, doch der musste ja am Sonnabend Fußball spielen und darauf warten, von Marco Kurzrock gefoult zu werden. Kam Sandra aus Mailand zurück, konnte sie vom Flughafen gleich ins Krankenhaus fahren. Das amüsierte ihn so sehr, dass er an sich halten musste, um nicht laut loszulachen.
So fuhr er gegen 19 Uhr in Frohnau vor, betrat mit wehendem Staubmantel und seinem Borsalino auf dem Kopf das ›à la world-carte‹ und inszenierte sich als der eigentliche Besitzer des Restaurants. Das begann damit, dass er das ›Reserviert‹-Schild, das den schönsten Platz am Fenster zierte, vom Tisch nahm und aufs Fensterbrett stellte und dem herbeieilenden Kellner wortlos Hut und Mantel entgegenstreckte, um sie von ihm zum Kleiderständer bringen zu lassen.
Matti Kemijärvi nahm sie auch, begrüßte Schulz mit ausgesuchter Höflichkeit und wies ihn erst dann darauf hin, dass der Tisch für Stammgäste reserviert sei.
»Das interessiert mich nicht im Geringsten«, sagte Schulz und setzte sich.
»Mein Herr …!« Der Finne war fassungslos. Zwar kannte er die Berliner Devise ›Frechheit siegt!‹ schon lange, doch hier in Frohnau benahmen sich die Gäste in aller Regel recht distinguiert.
Bharati kam ihm zur Hilfe, indem sie Schulz bat, doch bitte am Kamin Platz zu nehmen, da sei es viel gemütlicher.
»Wo ich es gemütlicher finde, das müssen Sie schon mir überlassen«, sagte Schulz mit erheblicher Lautstärke. »Wo bleibt die Speisekarte? Soll ich Ihnen Beine machen?« Dazu klatschte er mehrmals in die Hände.
»Moment bitte, ich hole den Chef.« Matti Kemijärvi eilte in die Küche.
Schulz ergötzte sich an der Reaktion der anderen Gäste. Sie waren ebenso erstarrt wie die Kunden einer Bankfiliale, wenn der Gangster hereinstürmte und rief: ›Hände hoch! Keiner bewegt sich!‹ Sein Verhalten war shocking, und die Frohnauer gaben sich entsprechend geschockt. Vielleicht fürchteten sie auch, er würde im nächsten Augenblick zum Amokläufer werden. Herrlich, mehr hatte er nicht erwarten können. Doch der nächste Höhepunkt ließ nicht lange auf sich warten. Denn Wiederschein kam aus der Küche gestürzt, um den frechen Eindringling mit ein paar harschen Worten auf die Straße zu setzen, prallte dann aber zurück, als er seinen Onkel erkannte, und sein Gesichtsausdruck wechselte in Sekundenschnelle vom Signal ›Hau ab, du Arsch!‹ auf ›Ah, du bist es …! Herzlich willkommen!‹ Schulz freute sich.
»Was führt dich denn in den hohen Norden?«, fragte ihn Wiederschein, nachdem sie sich mit Handschlag, aber ohne familiäre Umarmung begrüßt hatten.
Schulz gab sich keine große Mühe zu flüstern. »Ich habe gehört, dass dein Restaurant langsam zum Auguststall geworden ist.« Er wusste sehr wohl, dass es Augiasstall hieß, wollte sich aber daran weiden, wie Wiederschein seinen Impuls unterdrücken musste, ihn zu korrigieren.
Wiederschein schluckte und versuchte, sich dadurch aus der Affäre zu ziehen, dass er Schulz bat, doch an den Nebentisch zu kommen, wo eine Reihe illustrer Gäste auf das Essen wartete. »Du musst doch nicht allein hier sitzen … Komm, ich stell sie dir mal alle vor.«
Schulz stand auf und folgte ihm. Warum nicht? Sein liebstes Spiel war es, mit anderen Leuten beim Small Talk zusammenzusitzen, ganz harmlos zu tun und zu warten, bis die anderen ihre Deckung vernachlässigten und er einen Wirkungstreffer landen konnte.
»Darf
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