Unterm Kirschbaum
fragte Freddie.
»Wer soll ich schon groß sein?«, blaffte Schulz ihn an. »Erich Mielke natürlich. Schalten Sie nie den Fernseher ein?«
Da kam auch schon Rainer Wiederschein aus der Küche geeilt, um den Disput zu beenden. Er wies Freddie an, den Koffer ihres Ehrengastes aus dem Auto zu holen, und brachte seinen Onkel persönlich in sein Zimmer, das im Parterre des umgebauten Pferdestalls gelegen war.
Schulz schnupperte. »Riecht ja immer noch nach Pferdeäppeln. Ich empfinde es ganz schön als Beleidigung, mich hier unterzubringen.«
Wiederschein lachte. »Du sagst doch immer, dass du ein altes Schlachtross bist.«
»Nun wirst du auch noch frech!«
»Entschuldige bitte, aber das ist das feudalste Zimmer, das wir haben. Aber wenn es dir lieber ist, räumen Angela und ich unser Schlafzimmer und ziehen runter, während du …«
»Du kannst Angela ruhig oben lassen«, sagte Schulz. »Bei einigen Völkern ist das ja so üblich, dass man seinen Gästen auch seine Frau überlässt.«
»Würde ich ja, aber Angela ist heute bei ihrer Theatergruppe und kommt möglicherweise erst morgen Mittag nach Hause.«
Schulz zeigte auf Gudrun, die gerade dabei war, einen leeren Aschenbecher ins Gästehaus zu tragen. »Wenn du mir die da in’s Bett legst, will ich mein ganzes Geld zurückhaben.«
Da er gesehen hatte, wie Wiederschein bei dieser Drohung zusammengezuckt war, wiederholte er sie mehrfach, während sie am Abend im Wohnzimmer vor dem flackernden Kamin saßen und das Geschäftliche besprachen.
Schulz legte den Jahresabschluss 1997 beiseite. »Das Konzept ist falsch, mein lieber Rainer, du wirst ewig rote Zahlen schreiben. Und du kennst ja die alte Bankerregel, dass man gutes Geld nicht schlechtem Geld hinterherwerfen soll.«
»Gib mir noch diesen Sommer!«, bat ihn Wiederschein. »Bei schönem Wetter habe ich den Garten voll und verdiene ordentlich was.«
»Dein Vater hätte gesagt: Das Einzige, was du verdienst, ist eine Tracht Prügel.« Schulz erhob sich. Er war müde geworden. »Ich werde es noch einmal überschlafen, aber ich sehe eigentlich nur eine Möglichkeit: Du verkaufst hier alles, zahlst deine Schulden zurück und arbeitest als Koch in einem fremden Restaurant.«
Er erfreute sich an Wiederscheins Anblick, der dastand wie zur Salzsäule erstarrt, und machte sich auf den Weg hinüber ins Gästehaus, mit sich und der Welt zufrieden. Freddie und Gudrun standen wieder draußen und rauchten. Ihnen wie Wiederschein rief er zu, dass er wegen seines Termins in Rostock früh aufstehen müsse.
»Um 4 Uhr möchte ich geweckt werden und eine halbe Stunde später mein Frühstück haben. Um 5 Uhr muss ich weg. Gute Nacht, meine Dame, meine Herren, wünsche gut zu ruh’n.«
*
Carola Laubach lag im Bett und gab sich wieder einmal hin, nein, keinem Manne, sondern der Lektüre Friedrich Hölderlins. Seinen ›Hyperion‹ kannte sie in Teilen auswendig.
Wie ein heulender Nachtwind, fährt die Gegenwart über die Blüten unsers Geistes und versengt sie im Entstehen.
Ganz Lehrerin, als wenn sie einen Aufsatz zu bewerten hätte, oder wie es neunmalkluge Studierende bei ausgeliehenen Büchern taten, schrieb sie an den Rand: »Besser kann man es nicht ausdrücken, wie die Massenmedien der christlich-abendländischen Hochkultur den Garaus machen.«
Wenn ich hinsehe ins Leben, was ist das Letzte von allem? Nichts. Wenn ich aufsteige im Geiste, was ist das Höchste von allem? Nichts.
Sie legte das schmale Hölderlin-Bändchen beiseite, schaltete ihre Nachttischlampe aus und wäre im Nu eingeschlafen, wenn sie nicht in diesem Moment wieder einmal das fürchterliche Kribbeln in den Beinen verspürt hätte. Im Liegen hielt sie es nicht mehr aus, sie musste aufstehen und durch das Haus laufen.
Vor einer Stunde war starker Regen gefallen, jetzt hatte es aufgeklart, aber ein heftiger Nordwestwind fegte über Golfplatz und Heide und traf Frohnau. Auf der Baustelle nebenan knatterten die Plastikplanen, und auf der anderen Seite bogen sich die Fichten vor dem Restaurant so sehr, dass Carola Laubach Angst hatte, die Bäume würden umknicken und das Dach ihres Hauses durchschlagen.
Gern stand sie im Dunkeln am Fenster und beobachtete die Gäste. Es war interessant, wer es sich leisten konnte, im ›à la world-carte‹ zu speisen. Die Eingangstür mit ihrem Baldachin darüber lag seitlich zu ihrem Haus hin, sodass sie sich nicht groß den Kopf verrenken musste. Aber heute hatte sie Pech, die letzten Gäste waren
Weitere Kostenlose Bücher